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Sinn für Dauerhaftes

Von Peter Markl

Wissen

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Wikingerschiff: Zivilisation, Kultur oder Kunst? (Manuskript, British Museum, London).
© © Heritage Images/Corbis

Unter kulturbewussten älteren Österreichern hat, was mit dem Begriff "Zivilisation" gemeint ist, keinen besonders guten Ruf. Man war - und ist - stolz darauf, Angehöriger einer Kulturnation zu sein.

"Zivilisation" ist für viele ein nur wenig verwendeter und daher immer unschärfer gewordener Begriff, dem überdies ein Haut Gôut anhaftet: ein aus dem Westen importierter Begriff, irgendwie nicht bodenständig genug, eine Gefahr für die indigenen älplerischen Welten, - ein Importprodukt, das mit aus der Vergangenheit eingeschleppten emotionalen Markern versehen ist, wie neuerdings auch die Globalisierung oder die internationalen Finanzmärkte.

Vieles daran geht auf Emotionen zurück, die ein Nachhall der Sicht von "Zivilisation" zu sein scheinen, wie sie die Nationalsozialisten im Gegensatz zu Kultur verstanden haben wollten. Diese Sicht von Zivilisation ist keine Erfindung der Nazis, die selbst schon von einem emotionalen Bodensatz zu profitieren versuchten, als sie den Begriff als Kampfmittel in der kulturellen Auseinandersetzung mit den westlichen Zivilisationen unter ihren Feinden emotional aufzuladen versuchten. Auch heute versuchen konservative Parteistrategen in Österreich gelegentlich, die im Vorbewussten versunkenen Emotionen in einer Mischung aus Traditionspflege und Neumunitionierung wieder zu beleben und für eine fremdenfeindliche und anti-europäische Politik einzusetzen.

Im englischen Sprachraum war, was man mit dem Begriff "Zivilisation" assoziierte, in den letzten Jahrzehnten geprägt von einer gefeierten BBC-Serie, die der eminente Kunsthistoriker Kenneth Clark (Lord Clark) in den späten Siebzigerjahren erarbeitet hatte. Clark vermied es, sich eingangs auf das einzulassen, was viele Geisteswissenschafter immer für die elementarste Voraussetzung einer fruchtbaren Diskussion halten - nämlich das Vorlegen einer Begriffsdefinition. Er ging wie ein Naturwissenschafter vor: "Was ist Zivilisation? Ich kann es nicht in abstrakten Begriffen erklären."

Taten, Worte, Kunst

Clark zweifelte nicht daran, dass er sich über seine Sicht hinreichend klar geworden war und schrieb: "Ich glaube Zivilisation zu erkennen, wenn ich sie sehe", und er zitierte den viktorianischen englischen Kunsthistoriker John Ruskin, der einmal konstatierte: "Große Nationen schreiben ihre Autobiographien in drei Büchern: dem Buch ihrer Taten, dem Buch ihrer Worte und dem Buch ihrer Kunst." Lord Clark betonte, dass er mit der Fernsehserie seine persönliche Sicht zur Diskussion stellte und nannte die Serie "Civilisation. A personal view." Clark unterstrich, dass er keineswegs der Ansicht sei, die Geschichte der Zivilisation sei die Geschichte der Kunst.

Aber dem deutschen Verleger des begleitenden Buches schien der Titel nicht publikumswirksam genug, zumal die "Kulturnation" Deutschland gerade erst vor 40 Jahren aus einer fraglos unzivilisierten Barbarei aufgetaucht war. Er verpasste dem Buch den Titel "Glorie des Abendlandes. Von Gedanken, Bauten, Büchern, Kunstwerken und Genius unserer Zivilisation". Lord Clark aber wollte "Zivilisation" von "Kultur" unterschieden haben und das gelingt ihm in nur einer Abbildung: Sie zeigt den Bug eines Wikingerschiffes, der in der angsterregenden grässlichen Fratze eines Meeresungeheuers endet. Diesem Schnitzwerk, ein Dokument großer Kunst, stellt Kenneth Clark die heitere klassische Schönheit des griechischen "Apollo vom Belvedere" als Dokument einer großen Kultur und Zivilisation gegenüber. Für Clark erschöpft sich die Geschichte der Zivilisation eben nicht in Kunstgeschichte, er betont mehrmals, dass auch primitive barbarische Gesellschaften in der ornamentalen Kunst fraglos außerordentlich schöne Kunstwerke hervorgebracht hätten.

Schließlich lockert Lord Clark seine Abstinenz von verbalen Definitionsversuchen und notiert, dass Zivilisation nur in Gesellschaften entstehen könne, die einen Sinn für Dauerhaftes haben: "der zivilisierte Mensch muss fühlen, dass er irgendwo in Zeit und Raum seinen Platz hat, dass er bewusst vorausschauen und zurückblicken kann und dazu ist es eine große Erleichterung, lesen und schreiben zu können".

Im letzten Jahr sind im angelsächsischen Sprachraum, wo Lord Clark zunehmend als zu europazentristisch und in der Auswahl seiner Illustrationen anderen Gesellschaften gegenüber zu herablassend empfunden wird, einige Bücher erschienen, die Belege für die Errungenschaften der westlichen Zivilisation und Kultur sammeln und dem Ursprung zivilisatorischer Werte nachgehen.

Mehrere der Autoren sind durch die Befürchtung motiviert, dass die westlichen zivilisatorischen Werte in Gefahr geraten sind, von der nächsten Generation nicht mehr als solche getragen zu werden, weil ihre Entstehung und Funktion im Geschichtsunterricht nicht mehr adäquat erklärt, und daher ihre heutige Funktion als unerlässliche Beiträge zum weltweiten Erfolg der westlichen Gesellschaften nicht gesehen werden, wodurch diese Gesellschaften in einen ihre Stellung gefährdenden Verlust des Vertrauens in ihre Leitungsfähigkeit schlittern könnten.

Eine bessere Welt

Was dabei entstand, sind Sammlungen von Belegen für eine durch den Geist der Naturwissenschaften geprägte, mehr oder minder vorsichtig optimistische Sicht der Welt, wie sie viele Aufklärer vertraten, skeptisch gegenüber überkommenen Autoritäten, motiviert von der Hoffnung, dass sich das Los der Menschen durch Anwendung der neuen, empirisch geprüften, wissenschaftlichen Erkenntnisse verbessern ließe.

In Deutschland vertrat diesen Zweig der Aufklärung der Kant tief verehrende Göttinger Experimentalphysiker und große Essayist Georg Christoph Lichtenberg, der den Geist der Aufklärung mitunter einprägsamer formulierte als Kant selbst. Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne hat Lichtenberg die kleine Schrift "Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik: Lichtenbergsche Konjunktive" gewidmet, ein Juwel der Kulturwissenschaft. Darin zitiert er Lichtenberg, der in einem seiner Sudelbücher schon Jahre vor Kants legendärem Essay "Aufklärung" definierte: als den "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Lichtenberg sah das Ziel der Aufklärung darin, bei allem zu fragen, "wie könnte das besser eingerichtet werden".

Genau davor hat verblüffenderweise ein österreichischer Universitätsprofessor kürzlich - angeleitet offenbar vom Papst und inspiriert von Robert Musil - eindringlich gewarnt, da diese Suche, wenn sie im Geist der empirischen Wissenschaften erfolgt und die Leute selbst zu denken beginnen, oft zu Resultaten kommt, die dem Autor und dem Papst gar nicht gefallen. Hatte doch der Papst im Herbst 2011 vor dem Deutschen Bundestag in seiner Rede zur katholischen Naturrechtslehre angemerkt, dass die Naturwissenschaft ein "großartiger Teil der menschlichen Erfahrungen und menschlichen Könnens sei, auf das wir keinesfalls verzichten können". Ein "positivistisches Verständnis von Natur und Vernunft" scheine als Charakteristikum der gemeinsamen europäischen Kultur akzeptabel geworden, wodurch der Papst die europäische Kultur gefährdet sieht.

Schöne betont, dass Lichtenberg auch seinen Ideen gegenüber skeptisch war und zitiert einen Satz von Lichtenberg, den man heute gern von Politikern hören wollte, nachdem sie vollmundige Soundbites zu tiefgreifenden Reformen von sich gegeben haben: "Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird. Aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll".

Als Clark seine Fernsehserie plante, sah er die westliche Kultur und Zivilisation durch die atomare Rüstung bedroht. Für ihn war die Fratze am Bug des an der Küste auftauchenden Schiffes einer barbarischen mordenden und brandschatzenden Wikingerbande analog dem Periskop eines atomar bestückten Unterseebootes.

Prominente angelsächsische Autoren stehen bei ihrer naturwissenschaftsgeleiteten empirischen Prüfung heutiger Trends in der Tradition der Aufklärung in Lichtenbergs Geist.

Verlust an Einfluss

Die Bücher von Niall Ferguson und vor allem von Steven Pinker, der in der Geschichte einen zunehmenden Trend zum Zurückdrängen tödlicher physischer Gewalt nachgewiesen zu haben glaubt, werden in der nächsten Folge dieser Kolumne eingehend besprochen werden.

Niall Ferguson hat Kenneth Clarks Thema in seinem jüngst erschienenen Buch mit einem anderen Ziel aufgegriffen und darüber gleichfalls eine BBC-Serie geschrieben. Es ging ihm um die Frage: Was hat den Westen so einflussreich gemacht, dass die westliche Zivilisation die Welt zu dominieren begann. Die Faktoren - alle kulturell evolvierte gesellschaftliche Institutionen - sind zwar auch heute noch mächtig, doch es fragt sich, ob aktuelle Trends sie nicht von innen aushöhlen und die darauf beruhende Dominanz unterminieren. Ferguson führt diese Dominanz auf sechs Faktoren zurück, sieht ihren Einfluss im heutigen Europa aber verblassen und Europas Konkurrenzfähigkeit darunter leiden. Mit der Folge, dass das Bewusstsein, die Zukunft formen zu können, schwindet, sodass langfristige kulturelle und zivilisatorische Projekte gar nicht mehr in Angriff genommen werden: Es geht um Faktoren wie Wettbewerb, Wissenschaft, Eigentumsrecht, Medizin, Konsum und Arbeitsethik.

Als Österreicher, dem das ganze Ausmaß der Bildungskatastrophe klar geworden ist, (was dem Autor jüngst durch Gespräche mit Eltern von Mittelschülern und bei der Lektüre von Universitätsprüfungsarbeiten widerfuhr), bangt einem vor einer Jugend, die auch in bestbürgerlichen Wiener Bezirken die Frage, was sie gerne läse, als ungehörige Zumutung empfindet und mit der Gegenfrage kontert, ob auch das morgendliche Lesen von Facebook-Nachrichten oder kostenlosen Boulevard-Zeitungen als befriedigende Antwort durchgehen könnte. Hier wächst eine Generation ohne jedes Geschichtsbewusstsein heran, im Wesentlichen kulturfremde, wenig zivilisierte Barbaren.

Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung und Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.

Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 1211 Seiten.<br style="font-weight: bold;" />
Niall Ferguson: Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der
Kulturen. Propyläen, Ullstein Verlag, Berlin 2011, 560 Seiten.