Welche Pläne verfolgt die ÖVP mit dem Abwerben von Stronach-Mandataren? Eine Analyse.
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Wien. Dass man sich bei Handlungen heimischer Politiker nach dem tieferen Sinn fragt, passiert häufiger. Meistens deshalb, weil sich ein solcher selbst mit freiem Auge nicht sofort erschließt.
Reinhold Lopatka bietet in dieser Hinsicht willkommene Abwechslung. Den ÖVP-Klubchef umweht nicht erst seit dem Wechsel von mittlerweile vier Abgeordneten des Team Stronach ein Hauch von Undurchsichtigkeit. Kritiker glauben im 55-jährigen Steirer die dunkle Seite der biederen Innenpolitik erkennen zu können. In den Medien pendelt sein Image zwischen "bitterböse Grimasse der Politik" ("Kronen Zeitung") und "vorausschauender Stratege" ("Die Presse"); innerparteilich gilt er Anhängern als einer, "der die Möglichkeiten seines Amtes perfekt nutzt", Gegnern als "skrupelloser Erfüllungsgehilfe". Immerhin: Lopatka lässt kaum einen kalt.
Was aber steckt wirklich hinter dem Übertritt von Kathrin Nachbaur, Georg Vetter, Marcus Franz und Rouven Ertlschweiger?
Die am hitzigsten diskutierte Erklärung - ein fliegender Wechsel zu Schwarz-Blau - ist die unwahrscheinlichste. Nicht dass die ÖVP nicht gerne den Kanzler stellen würde, nur würde sie ein solches Manöver kaum durchstehen. Weder gibt es dafür eine interne Mehrheit noch will die FPÖ. Und schon gar nicht zieht Wolfgang Schüssel hinter Lopatka, dem letzten Mohikaner aus der schwarz-blauen Ära der ÖVP, die Fäden. Und die Reaktion der Wähler - irgendwann muss ja gewählt werden - würde zweifellos fürchterlich ausfallen.
Warum aber dann die Überläufe, zumal Parteichef Reinhold Mitterlehner auf die Stopp-Taste nach Franz und Vetter Anfang Juni drückte? Die "Trophäe Nachbaur" soll Mitterlehner umgestimmt haben: Die aparte 36-jährige Juristin, die es als Stronachs Vertraute zu Bekanntheit brachte, wird hier als Waffe gegen die Neos betrachtet. Der pinken Konkurrenz wollte man die Wirtschaftsliberale offensichtlich auf keinen Fall überlassen. Zumal Nachbaur ohnehin privat in ein tiefschwarzes Umfeld eingebettet ist.
Die Anhänger von Lopatkas Strategie sehen auch im Arzt Marcus Franz und dem Anwalt Georg Vetter interessante Nischenspieler. Als Freiberufler und Akademiker stehen beide für wichtige bürgerliche Wählergruppen, die derzeit im Klub massiv unterrepräsentiert sind. Bei Franz kommt hinzu, dass er den konservativen Katholiken ein Gesicht in der ÖVP geben könne; und Vetter bewegt sich als Präsident des "Clubs unabhängiger Liberaler" schon lange in bürgerlichen Gefilden. Vor allem aber entsprechen beide nicht dem Stereotyp des Funktionärs als Parlamentarier. Wirtschaftlich sind sie auch nicht auf ein Mandat angewiesen.
Mit Mitterlehner ist die ÖVP für die liberale Mitte attraktiver geworden; das gilt auch für die größte Wählergruppe, die Frauen. Im Gegenzug hat sich die Verwundbarkeit an der rechten Flanke weiter erhöht, die vor allem von der FPÖ, wirtschaftspolitisch auch von den Neos beackert wird. Der Idee einer konservativ-liberalen Wirtschaftspartei, wie sie Stronach einst vorschwebte, attestierten Umfragen ein Potenzial zwischen 9 und 16 Prozent der Wähler. Mit den Wechseln hoffen Lopatkas Anhänger, wenigstens einige Prozentpunkte dieses Segments zur ÖVP zu lotsen.
Kritiker bezweifeln, dass diese Rechnung aufgeht. In deren Augen sind die Überläufer Einzelkämpfer, die sich kaum als Nischenspieler bewähren werden.
Bliebe also noch der finanzielle Aspekt. Die vier zusätzlichen Abgeordneten erhöhen die Klubförderung für die ÖVP um rund 190.000 Euro jährlich.