Gastkommentar: Wie Europa mit dem "You can grab them . . ."-Präsidenten umgehen sollte.
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Mit einem Abschiedsbrief an sein Team hat der britische EU-Botschafter Sir Ivan Rogers zugleich auch seiner Regierungschefin Theresa May einige Empfehlungen für die Brexit-Verhandlungen ins Stammbuch geschrieben und damit seinem Abgang einen Knalleffekt verschafft.
Weniger Beachtung fanden jedoch jene vier Grundsätze in seinem vom "Economist" veröffentlichten Schreiben, die Sir Ivan als wichtigste zukünftige Grundtugenden dem britischen "Civil Service" mit auf den Weg geben wollte. Tugenden, die zugleich das Rückgrat für die Haltung all jener bilden sollten, die Europas politische Entscheidungsträger in den kommenden Jahren zu beraten haben werden. Diese Beratungsleistung bildet das Grundfundament für all die Weichenstellungen, die den Platz der Europäischen Union in ihrem neu zu gestaltenden Verhältnis zu den USA unter Präsident Donald Trump definieren werden.
Angesichts eines Gegenübers, das im Begriff ist, Faktizität situationselastisch neu zu definieren, Eigeninteressen unverblümt über alles stellt und offensichtlich nicht einmal an gemeinsamen Schnittmengen im Wertekanon interessiert ist, erhalten diese Empfehlungen eine ganz spezielle Ausgestaltung.
"I hope you will continue to challenge ill-founded arguments and muddled thinking and that you will never be afraid to speak the truth to those in power", schreibt Rogers. Sinngemäß übersetzt heißt das: "Ich wünsche mir, dass ihr weiterhin schlecht begründeten Argumenten und wirrem Denken entgegentretet und niemals Scheu haben werdet, jenen, die im Besitz der Macht sind, reinen Wein einzuschenken."
Europa hat genug Zeit damit verbracht, erschüttert und verwundert über den Atlantik zu starren. Auch wenn die Versuchung groß ist, in permanentes Kopfschütteln zu verfallen: Das kann kein Rezept sein, um den Europäischen Weg zu gestalten. Unser Gegenüber lässt keinen Zweifel daran, dass es zu jedem Faktum, das ihm nicht in den Kram passt, "alternative Fakten" aufzeigen und jede Tatsache erschüttern wird, um "America first!" mit Leben zu erfüllen.
Faktenbasiertes Vorgehen und klare Worte für die Machthaber
Umso wichtiger wird es sein, europäische Interessen faktenbasiert, strategisch "sine ira et studio" weiter zu verfolgen. Zur nüchternen Analyse und präzisen Widerlegung von Falschem darf es in der europäischen Politik keine Alternative geben. Blödsinn bleibt Blödsinn, und das muss den Machthabern in Europa auch klipp und klar dargestellt und kommunikationsgerecht aufbereitet werden. Dieses Maß an Verantwortung, das der Politikberatung gerade unter diesen neuen Umständen zukommt, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
"I hope that you will support each other in those difficult moments where you have to deliver messages that are disagreeable to those who need to hear them", so Rogers weiter: "Ich wünsche mir, dass ihr einander in den schwierigen Situationen unterstützt, wenn es darum geht, denen, die es hören müssen, auch Botschaften zu übermitteln, mit denen sie nicht einverstanden sein werden."
Jeder überbringt gerne die frohe Botschaft - es gehört zu den schönen Erlebnissen, Erfolgsmeldungen abzugeben. Billig zu habendes Lob winkt. Die eigentliche Herausforderung liegt jedoch darin, als Team mit demselben Engagement und Nachdruck und vielleicht noch größerer Sorgfalt und Aufbereitung Fakten und Entwicklungen darzustellen, die der bisherigen Linie oder - noch viel schlimmer - der oft geäußerten Meinung des Empfängers widersprechen. Solidarität im Team und klare Worte mit offenem Visier nach außen. Heruntergebrochen gilt das in besonderem Maße als Maxime unter den Staaten und Spitzenrepräsentanten der Europäischen Union.
Henry Kissinger wird das Diktum zugeschrieben, er wisse nicht, welche Nummer er wählen solle, wenn er mit Europa sprechen möchte. Auch wenn heute die Verantwortlichkeiten und Rollen klar verteilt sind: Wir sollten davon ausgehen, dass unser neues Vis-a-vis sehr geschickt Auffassungsunterschiede und Kompetenzstreitigkeiten innerhalb der EU wird auszunützen wissen.
Solidarität und gemeinsames Auftreten nach außen
In Fragen von EU-weitem Interesse werden Solidarität und gemeinsames Auftreten nach außen auf allen Ebenen des Kommunizierens mit den USA von essenzieller Wichtigkeit sein. "Make America great again" geht nämlich auf zwei Arten: Die USA werden (ökonomisch oder politisch) aus eigener Kraft "größer" als die anderen - oder die anderen werden relativ "kleiner" oder schwächer. Ein in sich uneiniges Europa, in dem partikuläre Interessen stets über das Gemeinsame gestellt werden, das sich von Minimalkompromiss zu Minimalkompromiss quält und diesen anschließend unterschiedlich auslegt, wird unweigerlich an Bedeutung verlieren - da müssen die USA selbst gar nicht mehr viel tun, um an Größe zu gewinnen.
"I hope that you will continue to be interested in the views of
others, even where you disagree with them, and in understanding why others act and think in the way that they do." Als dritten Wunsch formuliert Rogers sinngemäß: "Erhaltet euer Interesse sowohl an den Standpunkten anderer - auch wenn ihr nicht ihrer Meinung seid - als auch daran, zu verstehen, warum andere so handeln und denken, wie sie handeln und denken."
Alle Energie in die Umsetzung kluger europäischer Projekte
Nicht alle Motive von Trumps Administration werden so einfach zu durchschauen sein wie: "You can grab them by the pussy." Hinter viel Gepolter, Gesten und Aussagen - von denen viele schlicht der Provokation des verhassten "juste milieu" dienen - werden sich beinharte Strategien zur Durchsetzung von US-Interessen verbergen. Schrille Inszenierungen und plumpe Tabubrüche sollten uns nicht die Sicht auf den Wesenskern dahinterliegender langfristiger Zielsetzungen verstellen. Diese Nadelstiche werden bewusst gesetzt werden, um die Kraft der Medien und anderer gestaltender Elemente der europäischen Zivilgesellschaften zu mindern und vom eigentlichen Ziel abzulenken. Anstatt unsere intellektuellen Energien in lichtvollen, dramatischen Protesten gegen diese ach so schreckliche, fleischgewordene Karikatur, die da jetzt im Weißen Haus sitzt, abzubrennen, wären wir gut beraten, eben diese Energie in die Umsetzung kluger europäischer Programme zu stecken.
Trump bezeichnet die Nato als obsolet, den Freihandel als tot, den Klimawandel als Erfindung? Es gilt, das amerikanische Gestaltungsvakuum nicht zu beweinen, sondern es mit europäischen Akzenten aufzufüllen. Denn wenn bestehende Handlungsfelder aufgegeben werden, treten andere an ihre Stelle. Nicht zufällig war die Brexit-getriebene britische Premierministerin Trumps erster ausländischer Staatsgast. Soll das Halt suchende Vereinigte Königreich nicht zu Trumps Brückenkopf in Europa werden, muss seine Rolle in und seine Koexistenz mit Europa raschest definiert und ausgestaltet werden. Je aktiver Europa gestaltend auftritt, desto stärker wird es sein. Die penible Analyse der Motive und der Interessenlage unserer "Partner" auf den einzelnen politischen Schauplätzen ist dafür unabdingbare Voraussetzung.
"I hope that you will always provide the best advice and counsel you can to the politicians that our people have elected, and be proud of the essential role we play in the service of a great democracy" , so Ivan Rogers schließlich: "Ich wünsche mir, dass ihr die Politiker, die unsere Mitbürger gewählt haben, mit eurer Expertise bestmöglich unterstützt. Seid stolz auf diese Schlüsselrolle, die wir im Dienst einer großartigen Demokratie spielen."
Entscheidungsträger bestmöglich unterstützen – ja, was denn sonst? Eine Selbstverständlichkeit in der Politikberatung, möchte man meinen. Aber auch hier werden wir mindestens einen Gang zulegen müssen. Als Leiter der EU-Delegation durfte ich während vergangener Ratspräsidentschaften mit Kollegen aus US-Behörden vielfach zusammenarbeiten, auch in nächtelangen zähen Verhandlungen. Der Wechsel des US-Präsidenten und der Administrationsspitzen ist dort eine seit vielen Jahrzehnten geübte Praxis – der Apparat ist gewohnt, damit umzugehen und verliert den roten Faden und das US-Kernanliegen nie aus den Augen. Das wird in der Ära Trump nicht anders sein.
Europäische Linien noch klarer herausarbeiten
Wir Europäer werden unter den gegebenen Umständen unsere Linien noch klarer herausarbeiten und diese noch konsequenter verfolgen müssen. Denn "bestmöglich" bedeutet unter den neuen Umständen, auf zusätzliche, neue Elemente in der jeweiligen Gemengelage hinzuweisen, neue Querverbindungen zu schaffen und neue Akzente zu setzen. Die Hintergrundanalysen, welche die Basis für politische Entscheidungen darstellen, werden sich in Zukunft verstärkt und vertieft mit den Konsequenzen der einzelnen Varianten für die nationale Situation, für die Europäische Situation für den Brexit-Prozess und für das Verhältnis zwischen EU und USA auseinanderzusetzen haben, und zwar aus allen relevanten Blickwinkeln. "Bestmöglich" richtet sich nicht mehr an die einzelne Expertin oder den einzelnen Berater, sondern an die Gesamtqualität der Entscheidungsgrundlagen. Es ist Zeit, brachliegende Potenziale innerhalb der EU zu nutzen und verstärkt interdisziplinär zu arbeiten, über Landesgrenzen hinweg mit einer europäischen Perspektive.
Schließlich liegt Sir Ivan daran, mit seinen Kollegen das Bewusstsein zu teilen, mit Stolz im Dienste einer großartigen Demokratie zu stehen. Der Botschafter sprich hier zweifelsohne als Brite, der ob der Austrittsentscheidung mit Fassung ringt. Aber: Leidenschaft für Europa? Mit Gewissheit trägt diese Leidenschaft auch ein großer Teil jener in ihren Herzen, welche Grundlagen für politische Entscheidungen innerhalb der EU schaffen. Doch ist dieser Teil groß genug? Kommt diese Leidenschaft für Europa in diesen Grundlagen auch zum Ausdruck? Ist sie spürbar? In jenem Ausmaß, in dem Amerikaner für ihr Land Leidenschaft empfinden? Ich fürchte, da ist noch Luft nach oben in Europa.