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Sisyphos bekommt Verstärkung

Von Dagmar Weidinger

Wissen
Die Borderline-betroffene Künstlerin Karin Birner weiß, wie emotionale Sisyphosarbeit aussieht. (Foto: Birner)

Empowerment durch Austausch auf gleicher Augenhöhe. | Wien. Borderline-Betroffene sind schwierig, sich selbst und andere Menschen lieben sie manchmal heiß, dann kommt die Abneigung - oft plötzlich und unerklärlich. Stabile Beziehungen über einen längeren Zeitraum zu halten, ist für sie emotionale Sisyphosarbeit. Selbsthilfegruppen lösen sich häufig rasch wieder auf, Therapiebeziehungen werden abgebrochen, Partnerschaften über Nacht verlassen. Für ein Entkommen aus dem oft durch Traumata hervorgerufenen inneren Chaos ist viel Reflexion nötig.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wer seine Emotionen rund zehn Mal stärker spürt als der Durchschnitt, braucht einem neutralen Raum, um über seine Gefühle zu sprechen: Trialogische Gruppen bieten diesen Raum. Wie sie genutzt werden, und warum auch Angehörige und Professionelle von diesen besonderen Gesprächsrunden profitieren können, kann seit einem halben Jahr bei pro mente Wien live miterlebt werden. Nach Abschluss einer geschlossenen Gruppe im Juli, soll der Trialog nach der Sommerpause ab 2. September für jedermann jederzeit zugänglich sein.

"Ich habe gewusst, dass irgendetwas bei mir nicht stimmt, aber meine Familie hat immer gemeint, du hast ja gar nichts - vielleicht eine kleine Depression", sagt die Sozialpädagogin Ruthild Lentner, ehemals Betroffene und Teilnehmerin am ersten Wiener Borderline-Trialog. "Für mich war es eine richtige Erleichterung, als ich die Diagnose Borderline bekam." "Hast du dich nicht stigmatisiert gefühlt?", fragt eine der anwesenden Ärtzinnen. "Nein, davor hatte ich immer Schuldgefühle wegen meines Verhaltens. Jetzt wusste ich, ich habe eine psychische Krankheit, gegen die ich etwas tun kann." Viele der professionellen Helfer staunen - so hätten sie die Sache noch nie gesehen.

"Systemsprenger mit besonderen Bedürfnissen"

Seit einem halben Jahr treffen sich alle 14 Tage neun bis 20 Personen bei pro mente Wien, um sich über ihre Erfahrungen zum Thema "Borderline" auszutauschen. Neben der ehemaligen Betroffenen Ruthild, sitzt Claudia Frühwirth, Lebens- und Sozialberaterin, einen Stuhl weiter Günther Koch, Stiefvater einer 17-jährigen Tochter, die sich schon seit Jahren selbst verletzt. Gemeinsam macht man sich Gedanken darüber, wie es mit der Eigenverantwortung der Erkrankten aussieht, wie mit dem Stigma umgegangen werden kann, und wie Therapeuten und Angehörige am besten helfen können. "Im Trialog wird das ausgesprochen, was der Therapeut nicht in seiner Praxis sagen kann, was der Angehörige nicht in seiner Familie oder seinem Freundeskreis zugeben will und was der Betroffene beiden immer schon über sein Erleben erzählen wollte", meint Ruthild.

Der helle Seminarraum im Erdgeschoss der Wiener Organisation "für psychische und soziale Gesundheit" wird zu einem Ort des "gegenseitigen Helfens, Verstehens und Zuhörenlernens", so Ruthild. Für pro mente Chef Rudolf Wagner ist er noch mehr als das: "Der Trialog ist für uns ein Wissensgenerator, wie wir bestehende Angebote gezielt erweitern beziehungsweise neue entwickeln können." Wagner, selbst Therapeut, weiß, dass Personen mit einer Borderline-Störung häufig "Systemsprenger" sind, "die besondere Bedürfnisse haben." "Dadurch dass uns die Betroffenen im Trialog an ihrem Erfahrungswissen teilhaben lassen, können wir herausfinden, was das optimale Angebot für sie wäre." Eine wichtige Sache bei rund 20.000 Betroffenen in Wien.

Made in Germany

Die Idee des Trialog stammt aus Deutschland. Zurückgehend auf die sogenannten Psychose-Seminare, in denen sich Menschen zum Thema Psychose im Trialog austauschen, starteten die beiden deutschen Betroffenen Anja Link und Christiane Tilly im Jahr 2004 die erste große Borderline-Trialog-Auftaktveranstaltung im Bezirksklinikum Ansbach bei Nürnberg. Ansbach war nicht nur Stein des Anstoßes für regionale Gruppen, sondern beheimatet seither jährlich den bundesweiten Borderline-Trialog, ein Symposium, das über 400 Angehörige, Betroffene und Profis aus dem gesamten deutschsprachigen Raum anzieht. Seit 2004 ist viel passiert. "Wenn es ihnen einmal besser geht, sind Borderliner die aktivsten Betroffenen", sagt Anja Link nicht ohne Stolz. Wer auf einen Blick auf die Homepage der internationalen Borderline-Trialog-Vernetzungsstelle in Nürnberg wirft, zählt mittlerweile zehn Trialog-Städte in Deutschland und eine in der Schweiz. Wien steht seit März 2010 als einzige Stadt Österreichs auf der Liste.

Auch Michaela Amering, Universitätsprofessorin und Oberärztin an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Wien, ist überzeugt, dass man die Kompetenzen der Betroffenen und ihrer Angehörigen nutzen sollte. Als Gründungsmitglied des ersten allgemeinen Wiener Trialogs und aktive Trialog-Teilnehmerin seit 1994 weiß sie, dass "Trialog gelebtes Empowerment für alle Gruppen bedeutet." Während Betroffene und Angehörige davon profitieren würden, als Experten im unmittelbaren Umgang mit der Erkrankung zu kommunizieren und wahrgenommen zu werden, könnten Profis zum Beispiel ihre Ohnmacht im Umgang mit autoaggressiven Patienten beschreiben. "Auch für Betroffene ist es wichtig, einmal zu erfahren, wie man sich als Therapeutin fühlt, wenn sich jemand immer wieder in den Arm schneidet." Ruthild zieht ein ähnliches Resümee: "Erst im Trialog habe ich erfahren, wie ratlos Therapeuten oft im Umgang mit Borderline-Patienten sind, und wie verzweifelt und hilflos Angehörige sein können, weil sie das Verhalten ihres Partners oder ihres Kindes einfach nicht verstehen."

"Einmal Bordi - immer Bordi?"

Im Trialog sind es ehemals Betroffene wie Ruthild, die dann auch Tipps für die Therapeuten auf Lager haben: "In Krisensituationen bringt Panik gar nichts, mir hat es sehr geholfen, dass mir meine Therapeutin immer wieder vermittelt hat, dass ich es schaffen kann." Eine derartige Einstellung zu "Borderline" ist keine Selbstverständlichkeit in Therapeutenkreisen. "Einmal Bordi - immer Bordi", bringt Ruthild das Vorurteil vieler Fachleute auf den Punkt. Einige Mythen, wie jener der Unheilbarkeit würden sich hartnäckig halten. "Hier fehlt es häufig einfach noch an positiven Beispielen und sichtbaren Vorbildern", weiß Michaela Amering. Viele Profis würden sich außerdem falsche Vorstellungen davon machen, wie "Heilung" aussehen könne. Die Autorin des preisgekrönten Fachbuches Buches "Recovery - Das Ende der Unheilbarkeit", weiß, dass es für eine Verbesserung der Situation nicht immer das komplette Verschwinden aller Symptome braucht. "Wir müssen gemeinsam für jeden die individuell bestmögliche Situation schaffen. Mit manchen Einschränkungen kann man dann auch gut leben lernen." Wie dies gelingen kann, wird wohl auch noch im nächsten halben Jahr im Trialog heiß diskutiert werden.

Info und Links:

Der Borderline-Trialog findet jeden 1. und 3. Donnerstag im Monat zwischen 18.30 und 20.00 Uhr bei pro mente Wien, Grüngasse 1A, statt.

Kontakt: borderlinetrialog@promente-wien.at

pro mente Wien. Gesellschaft für psychische und soziale Gesundheit

+++ Internationale Borderline-Trialogvernetzungsstelle Nürnberg

+++ Ludwig Boltzmann Institut für Sozialpsychiatrie/Univ.Prof. Dr. Michaela Amering