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Eine Biografie von 18.000 Seiten. Keinem Heine, keinem Mozart wird nachgespürt, zum Teil bis in kleinste Lebensäußerungen, sondern Peter Wulkau. Womit hat sich der in der politischen Erwachsenenbildung tätige, außer seinen Berliner Hörern nur wenigen bekannte Mann dieses gigantische Unternehmen verdient?
Es handelt sich um seine Stasi-Akten. Damit ist alles klar. Wulkau hat sich 1968 als 21-Jähriger mit der DDR-Macht angelegt, flog von der Uni, wurde 1978 verhaftet und wegen "staatsfeindlicher Hetze" zu viereinhalb Jahren verurteilt, 1979 vorzeitig entlassen und durfte 1980 mit seiner Familie aus der DDR ausreisen.
Selbst die von Heike Bachelier ausgewählten 356 Protokollseiten stellen den Leser auf eine harte Probe. Aber die Ausdauer lohnt sich. Wulkau ist ein exemplarischer Fall. Seine 59 Ordner sind ein winziger Teil der von der Stasi, der "Staatssicherheit", hinterlassenen 111 Kilometer Papier und 47 Kilometer verfilmten Schriftguts. Der Enkel eines Berliner Bäckermeisters und bürgerlichen "Hausherrn" war einer jener, die auf einer eigenen Meinung bestanden und damit den allgegenwärtigen Überwachungsstaat in Bewegung setzten.
Auch Wulkau erfuhr erst nach dem Fall der Mauer, wie viele Kollegen und Freunde, auch in der Evangelischen Studentengemeinde, ihn ausgehorcht hatten. Bis hin zur Serviererin im Magdeburger Weinstudio Grün-Rot, die als Frau eines OM, eines operativen Mitglieds des Ministeriums für Staatssicherheit, die Gäste bespitzelte. Beim Zusammenbruch der DDR hatte die Stasi 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter - fast zehnmal mehr als alle Geheimdienste des um so vieles größeren heutigen Deutschland. Dazu 189.000 IM, "inoffizielle Mitarbeiter."
Wulkau lieh einer Kollegin den "Ulysses" von James Joyce. Sie las nicht einmal das Titelblatt genau. In ihrem Bericht erwähnt die IM das "in der DDR verbotene Buch ,Ulystes‘ von Janes Joyce". Deutlich werden freilich auch die Unterschiede zwischen der DDR und dem Stalinismus mit seiner mörderischen Konsequenz. Wulkau konnte sich in den Vernehmungen vor dem Prozess, dessen Urteil ohnehin schon vorher feststand, Äußerungen einer Art leisten, die ihn unter Stalin (von Hitler ganz zu schweigen) sofort den Kopf gekostet hätten.
Die Parallelen zwischen dem Faschismus und der DDR
Auf den Besitz von Hitlers "Mein Kampf" angesprochen, sagt er dem Vernehmer: "Warum wird dieses Buch oder die Tagebücher von Goebbels nicht in der DDR veröffentlicht? Das geht einfach nicht, denn dann würden sich die Herrschenden in der DDR entschleiert sehen und die Menschen würden die Parallelen zwischen dem Faschismus und der DDR erkennen." Geradezu rührend liest sich da die Anweisung, "im Interesse eines offensiven vernehmungstaktischen Vorgehens" vom "überdurchschnittlichen Intelligenzgrad" Wulkaus auszugehen und ihm Lese- und Raucherlaubnis zu geben, weil "der Besch. offensichtlich andere Behandlungsmethoden durch das Untersuchungsorgan erwartet hat, deshalb wird gegenüber dem Besch. besonders korrekt aufgetreten."
Er werde die Hausordnung respektieren, erklärte er bei der Aufnahme in die "Strafvollzugseinrichtung Cottbus". Doch ein Leben in der DDR könne für ihn nicht in Frage kommen, sein ideologisches Wertsystem sei zu ausgeprägt und verhärtet, er werde in Westberlin leben. Kommentar der Bürokratie vom selben Tag: "Vergleicht sich in seiner Haltung und Position mit solchen Verrätern wie Biermann, Kunze und Fuchs. Versucht diese Position und seine schriftstellerischen Fähigkeiten ständig in den Mittelpunkt zu bringen. Als Demonstrativtäter zu beachten." Ständige Kontrolle sei erforderlich.
Das Buch dient nicht zuletzt auch der richtigen Einordnung der DDR in die Palette inhumaner Systeme des 20. Jahrhunderts von Hitler und Stalin über Mussolini und Franco bis zum heutigen China, Saudi-Arabien und so fort.
Sachbuch
Ein ganz normaler Feind. Das Leben des Peter Wulkau in den Akten der Stasi.
Zusammengestellt von Heike Bachelier
Droemer Verlag, 414 Seiten, 22,99 Euro