Gut, dass der sexuelle Missbrauch an katholischen Bildungsstätten an die Öffentlichkeit kommt. Mit Tatbestandsaufnahme ist die Bekenntnislawine nicht zu verwechseln.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es gab selten einen Skandal, dessen Komponenten menschlich so tragisch und medial so leicht auszuschlachten waren wie die in einer Kettenreaktion anschwellenden Berichte über sexuelle Gewalt an kirchlichen Bildungsstätten. Die primäre Story ist, dass vor allem die katholische Kirche durch die wie ein Schneebrett losgetretenen Beschuldigungen gezwungen wird, mit ihrer verlogenen Praxis, alles geheim zu halten, aufzuräumen.
Der sekundäre Teil ist die Kommunikation darüber. In Österreich und Deutschland wird nach den Spielregeln der Talkshow "aufgearbeitet". Außerhalb des Rechtssystems und empirischer Sorgfalt wird ausgebreitet, was sich vor 20, 30 oder auch 40 Jahren begeben hat oder begeben haben könnte. Bis ins Ö1-"Morgenjournal" drängen sich Opfer, denen man durchaus abnimmt, dass sie Opfer waren, die aber lang vergangene Geschehnisse mit fotografischem Erinnerungsvermögen so schildern, dass damit auch ein allzeit bereiter Voyeurismus befriedigt werden könnte.
Vor jedem Gericht fällt die Bewertung von Zeugenaussagen schwer, vor allem wenn sie weit zurückliegende Handlungen betreffen. Die Enthüllungslawine erreichte ungeachtet ihrer Wirkung noch nicht einmal den Beginn der Faktensicherung. Tendenz ist in mancher Berichterstattung greifbar: Für ARD und ZDF bildeten am Samstag Tatsache und Inhalt des Papst-Hirtenbriefes die Ausgangsmeldung der Abendnachrichten, in der ORF-"Zeit im Bild" wurde schon in der Signation "viel Enttäuschung" über das Schreiben Benedikts XVI. angesagt.
Nach dem aus Kremsmünster bekanntgewordenen Missbrauch Heranwachsender durch priesterliche oder bloß pädagogische Oberhirten wurden im Internet zwei Blogforen eingerichtet, in denen mittlerweile nahezu tausend Beiträge zu finden sind: erschütternde, zweifelnde, zweifelhafte und - wie das immer in diesen ungebremst füllbaren Diskussionsforen der Fall ist - hirnrissige und bösartige. Manche Internatszöglinge fallen auch übereinander her. Zuträger mischen sich ein, die in den 1970ern Gestapo-Methoden, Scheinhinrichtungen und Schlimmeres beobachtet zu haben vorgeben. Unter dem Schutz der Anonymität kennt der pauschalierbare Ekel kein Maß: "Leider ist es heutzutage in Österreich noch immer nicht legal, die besagten Kinderschinder gnadenhalber an das Stiftstor zu ketten, um diese dann der Öffentlichkeit zu überlassen."
Die Geständnisse einzelner Übeltäter sprechen für sich. Aber zugleich werden gegen namentlich genannte Personen schwerste Beschuldigungen erhoben, ohne dass diese die geringste Chance hätten, darzulegen, dass etwas, was fest behauptet wird, sich so nicht abgespielt habe. Die Kirchenoberen kümmern sich in einer Art Flucht nach vorne hauptsächlich um die Opfer sexueller oder anderer Gewalt, was ein gutes Zeichen für einen Sinneswandels ist.
Jetzt wird es allmählich Zeit, die Abhandlung in einen juristisch erträglichen Rahmen zu bringen. Diskutieren und aufdecken kann man alles, die Affäre ist geradezu eine Einladung an die Medien zum Zugreifen. Sinngemäß propagierte der ORF die am Sonntagabend ausgestrahlte Sendung "Die letzten Zöglinge" mit den Worten, der Dokumentarfilm begleite einstige Internatsschüler "in ausführlichen Interviews zurück in die Welt ihrer Kindheit". Die Welt der Kindheit ist weit, aber die Skandalbegleitung noch fern jeder Lösung oder gar der ganzen Wahrheit. Diese hängt in der Endlosschleife immer neuer Outings.
Engelbert Washietl ist Sprecher der "Initiative Qualität im Journalismus"; zuvor "Wirtschaftsblatt", "Presse" und "Salzburger Nachrichten".