Eigentlich ist das ein schöner Grund zu feiern: Vor 200 Jahren, am 1. Jänner 1804, erlangte die Karibik-Republik Haiti ihre Unabhängigkeit. Vorausgegangen war ein zwölfjähriger Befreiungskampf der aus Afrika in die Karibik verschleppten Sklaven gegen ihre weißen Herren. Aus dem einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand der Weltgeschichte ging die erste selbstständige Nation Lateinamerikas hervor.
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Doch das Land präsentiert sich zum "Bicentenaire", der 200-Jahr-Feier, in denkbar schlechter Verfassung. Die mit der US-Intervention 1994 verbundenen Hoffnungen auf eine stabile demokratische Entwicklung haben sich nicht erfüllt. Proteste gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide erschüttern das Land. Wegen fehlender rechtsstaatlicher Garantien hält das Ausland die meisten der für Haiti vorgesehenen Hilfsgelder zurück. In den Tabellen über wirtschaftliche und soziale Entwicklung steht der nach den USA älteste Staat des Kontinentes mit Abstand auf dem letzten Platz.
Während die Fernstraßen im Lande verfielen, hatte die Regierung Aristide in diesem Jahr aber noch genug Geld, um für das Jubiläum Denkmäler herauszuputzen und Plätze neu zu pflastern. Im frischen Glanz erstrahlen jetzt die Bronzestatuen der Nationalhelden Toussaint L'Ouverture, Jean-Jacques Dessalines und Henri Christophe - ehemalige Sklaven, die als Führer des Freiheitskampfes die französischen Kolonialherren das Fürchten lehrten und Napoleon zwölf Jahre vor Waterloo die erste schwere Niederlage bereiteten.
Im August 1791 hatten die Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen Haitis die Postulate der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - wörtlich genommen und sich im Norden der Kolonie erhoben. In den folgenden Jahren der Revolutionskriege zwischen Frankreich und England schaffte es Toussaint L'Ouverture, in wechselnden Allianzen eine weitgehende Selbstständigkeit der Kolonie zu erkämpfen. Doch 1802 schickte Napoleon, von den enteigneten Pflanzern gedrängt, eine Expeditionsarmee, um die Sklaverei in Haiti wieder herzustellen. Eine Gelbfieber-Epidemie, das militärische Geschick der Haitianer und nicht zuletzt eine britische Seeblockade besiegelten bis Ende 1803 das Schicksal der französischen Truppen.
"Für die Unabhängigkeitserklärung brauchen wir die Haut eines Weißen als Pergament, seinen Schädel als Tintenfass, sein Blut als Tinte und ein Bayonett als Feder", verkündete damals der schwarze General Boisrond-Tonnerre. Haitis erster Staatschef Dessalines ließ aus der französischen Flagge die Farbe Weiß herausschneiden und Blau mit Rot zu den heutigen haitianischen Nationalfarben zusammennähen. Die meisten der im Lande verbliebenen Franzosen wurden ermordet.
Doch die blutige Geburt der Nation legte auch den Keim des wirtschaftlichen Niedergangs. Die einst reichste Kolonie Frankreichs war vom Krieg verwüstet, und die Zuckerindustrie als Devisenquelle verfiel, weil die einstigen Sklaven nicht mehr auf den Plantagen arbeiten wollten. "Haitis Wirtschaft beschritt den verhängnisvollen Weg vom Großbetrieb zurück zur Subsistenzwirtschaft", schreibt der Historiker Walter L. Bernecker.
Haiti litt aber auch unter der feindseligen Haltung der europäischen Mächte und der USA, die selbst ja weiterhin Sklaven hielten und denen die "Negerrepublik" daher suspekt war. Für die völkerrechtliche Anerkennung verlangte Frankreich eine Entschädigung von 150 Millionen Gold-Francs, von denen Haiti 90 Millionen auch bezahlte. Aristides Forderung nach "Restitution" - Rückzahlung nach dem heutigen Wert - wurde von Paris abgelehnt.
"Es gäbe gar keine Garantie, dass diese Regierung das Geld zum Nutzen des Landes verwenden würde", sagt der haitianische Historiker Michel Hector, ein Gegner Aristides. Es stehe aber außer Zweifel, dass Haiti bis heute unter den Folgen der Sklaverei leide. Mit ihrem Aufstand hätten die Haitianer vor 200 Jahren die Grundpfeiler des damaligen europäischen Kolonialsystems - Sklaverei, rassische Ausbeutung und Plantagenwirtschaft - in ihrem Teil der Neuen Welt ins Wanken gebracht. "Die Unabhängigkeit war eine große kollektive Leistung, und darauf können wir stolz sein", sagt Hector.