Belgrad - Sie singen, sie jubeln, sie schießen Böller in die Luft. Für eine Nacht ist in Belgrad alles anders. Fast 20.000 Menschen feierten in der Innenstadt eine gigantische Party. Sie hoffen, dass diese Nacht alles ändern wird. Die Auszählung der Stimmen zu den Präsidentschaftswahlen hat begonnen, und die ersten Ergebnisse - von der Opposition vorgetragen, die offiziellen bleiben aus - sind ganz nach dem Geschmack der Gegner von Slobodan Milosevic.
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"Slobodan, rette Serbien und bring Dich um", singen sie ihrem verhassten Präsidenten ein Lied.
Der Held der Straße ist an diesem Abend Vojislav Kostunica, Milosevics überraschender Herausforderer. "Befrei' das Land aus der Irrenanstalt, in der es eingeschlossen ist", beschwört ihn ein Chor von tausend Stimmen. Gemeinsam warten die Anhänger der Opposition auf ihr Lebenselixir - die nächsten Wahlergebnisse. Sie stehen geduldig auf der Terazije-Straße, wo auch die Demokratische Partei sitzt, ein Teil des Oppositionsbündnisses DOS. "Wir haben Chancen, schon in der ersten Runde zu gewinnen", glaubt Jelena, und ihre Augen strahlen hinter den Brillengläsern. "Pobeda - Sieg" - rufen ihre Freunde im Hintergrund.
Redner füttern die Menschen von Zeit zu Zeit mit den neuesten Ergebnissen aus einzelnen Wahllokalen. Mit Hurra-Rufen begrüßt die Menge jede positive Kunde für Kostunica, Pfiffe gibt es für Milosevic - und Popcorn für die Polizei. Die Stimmung ist ausgelassen: Die Menschen hören Musik, tanzen, diskutieren, und reichen den ungerührt am Rand stehenden Sicherheitskräften auch schon mal eine Handvoll Party-Futter. Doch die fröhliche Stimmung schlägt um, als eine Hundertschaft von Einsatzkräften anrückt, um Anhänger der Opposition und der sozialistischen Regierung vorsorglich zu trennen.
Verglichen zu den ausgelassenen, mehrheitlich jungen Anhängern der Opposition ist es nur eine kleine Schar von Milosevic-Getreuen, die einem vom Staatsfernsehen RTS organisierten Konzert auf dem nahe gelegenen Platz der Republik zuhören wollen. Sie schwingen Fahnen der Jugoslawischen Linken, der Partei von Milosevics Frau Mira Markovic, und müssen sich ordentlich ins Zeug legen. Die Anhänger der Opposition übertönen sie mühelos. Ausgelassen überschreien sie die Sänger auf der Bühne: "Geht nach Hause, er ist sowieso erledigt". "Er", das ist Slobodan Milosevic. Aus Angst vor Ausschreitungen räumen die Kellner der umliegenden Straßenlokale schon einmal Tische und Stühle weg.
Doch die Befürchtungen erweisen sich als unbegründet: Kurz nach Mitternacht geht das Konzert zu Ende, die Polizeikräfte ziehen ohne weiteren Zwischenfall ab und überlassen den Oppositionsanhängern die Straßen der Hauptstadt. Dort singen, tanzen und hoffen die Menschen weiter - bis der Morgen graut.