Extremismusforscherin Julia Ebner darüber, wie in der Corona-Krise Bürger zu Brandstiftern werden.
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"Wiener Zeitung:" Im deutschen Idar-Oberstein hat im September ein Mann eine Tankstellen-Aushilfe erschossen, weil er von dem 20-Jährigen auf die Maskenpflicht hingewiesen wurde. Auf den diversen Internetplattformen gibt es mittlerweile viele Corona-Leugner und Impfgegner, die offen zu Gewalt aufrufen - mitunter sogar zu tödlicher. Was muss passiert sein, damit jemand dort anlangt, wo diese Menschen sind?
Julia Ebner: Es sind mehrere Faktoren, die zusammentreffen, bis es wirklich zur Gewaltbereitschaft kommt - ganz egal, in welcher radikalen ideologischen Gruppe man sich befindet. Und klarerweise ist es meistens so, dass sich das erst über die Zeit aufbaut, wenn die aufgestauten Frustrationen immer mehr werden und man den Glauben an die Politik und politische Lösungen verliert. Im Fall Idar-Oberstein war das ein sehr spontaner Angriff, wo man gesehen hat, dass schon sehr viel Wut und Aggression da war. Diese Zunahme an Frustration beobachten wir derzeit aber auch in vielen der geschützten Telegram-Kanäle, die von Corona-Leugnern, Maskengegnern und der ganzen verschwörungstheoretischen Szene von QAnon verwendet werden. In diesen verschlüsselten Räumen, wo systematische Radikalisierung über längere Zeit stattfindet, ist die Sprache in den letzten beiden Jahren immer aggressiver geworden.
Wie läuft so ein Radikalisierungsprozess prototypisch ab? Gibt es hier verschiedene Phasen?
In meinem letzten Buch "Radikalisierungsmaschinen" habe ich die unterschiedlichen Phasen genauer analysiert, weil es selbst bei der Online-Radikalisierung, die oft als Black-Box-Mechanismus dargestellt wird, einen sehr klaren Prozess gibt. Der beginnt natürlich sehr oft mit der klassischen Rekrutierung, also dass man einer Gruppe beitritt. Der wesentlichste Schritt ist dann die Sozialisierung. Und diese Sozialisierung in einer Gruppe ist meiner Meinung nach sogar wichtiger als die häufig nachgelagerte ideologische Indoktrinierung. Man sieht in den Netzwerken der Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner sehr deutlich, dass sich die Mitglieder als Teil einer exklusiven Subkultur fühlen, die ein eigenes Vokabular und Insider-Codes entwickeln. Dabei fällt auf, dass sich die Identität der Mitglieder immer stärker verändert, je länger sie in der Gruppe sind. In diesem Prozess wird die eigene Identität dann sukzessive zugunsten der Gruppenidentität aufgegeben und das bedeutet auch, dass die Bereitschaft steigt, im Namen der Gruppe Gewaltakte zu verüben und sich auch für die gesamte Gruppe aufzuopfern. Das passiert in dschihadistischen Netzwerken genauso wie in anderen Gruppen. Nach der Sozialisierung kommt es dann zum erweiterten Austausch mit Gleichgesinnten, etwa mit anderen Gruppen auf Telegram. Hier ist auch zu sehen, dass es eine sehr starke internationale Vernetzung gibt, nicht zuletzt auch im deutschsprachigen Raum. Bei den Corona-Leugnern und Maßnahmengegnern stammt etwa viel Material aus jeweils anderen Gruppen, Informationen werden in diesem alternativen Informations-Ökosystem schnell und breit geteilt. Ich habe das selbst ausprobiert, man wird von einer Telegram-Gruppe zur nächsten weitergeleitet und kann bald nur noch diese Informationen konsumieren. Danach kommt es in diesen Gruppen zur Mobilisierung, etwa zu Protesten und Online-Kampagnen. Der letzte Schritt ist dann der Angriff gegen politische Gegner, das kann rein rhetorisch im Sinne einer Online-Hass-Kampagne sein, aber auch in Form von Gewalt.
Sie haben jetzt schon Telegram erwähnt, gibt es auch noch andere Plattformen, wo sich diese Szene vernetzt?
Telegram ist nach wie vor der wichtigste Kommunikationskanal, weil die rechte Szene im deutschsprachigen Raum hier in den vergangenen Jahren wichtige Infrastruktur aufbauen konnte. Denn im Gegensatz zu dschihadistischen Kanälen, die auf Telegram seit einiger Zeit systematisch entfernt werden, blieb diese Gruppe nahezu unbehelligt. Auf den großen Netzwerken Facebook und Twitter wurden Gruppen von Corona-Leugner und QAnon-Verschwörungstheoretikern dagegen zuletzt großflächig gelöscht, womit natürlich auch die Mobilisierungsfähigkeit abnimmt. Trotzdem gibt es auch hier immer wieder Kampagnen.
Sehen wir bei den Corona-Extremisten auch eine physische Vernetzung, im dschihadistischen Milieu waren es ja häufig isolierte Täter, die kaum oder gar keine direkten persönlichen Kontakte mit Gesinnungsgenossen hatten?
Ich war selbst auf einigen Corona-Maßnahmen-Protesten und klarerweise findet dort auch Vernetzung statt. Auf Telegram merkt man zudem, dass die Proteste immer regionaler werden, was bedeutet, dass Begegnungen von Menschen aus der selben Gegend zunehmen. Man lernt somit andere Menschen kennen, tauscht Kontakte aus. Gerade während einer Pandemie, wo so etwas oft fehlt, ist das eine willkommene Alternative. Und natürlich machen die organisierten Gruppen in Zeiten der kollektiven Einsamkeit auch hier ganz konkrete Angebote und bieten die Aussicht auf neue Freundschaften. Mir hat etwa ein QAnon-Anhänger erzählt, dass er vor allem wegen dem Spaßfaktor und der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe gekommen ist.
Nach allem, was Sie bisher gesagt haben, gibt es also einen gewissen Gleichklang bei den Motiven zwischen Corona-Leugnern, Rechtsextremen und Dschihadisten.
Ja, absolut. Ich würde auch sagen, dass jeder und jede von uns anfällig ist für Radikalisierung. Und die radikalen Netzwerke wissen ganz genau, an welchen unserer Schwächen sie ansetzen können. Verbindende Elemente sind zudem das Anti-Eliten-Ressentiment und die enorme Unzufriedenheit mit dem Status quo. Beides zusammen führt in Corona-Zeiten natürlich zu einer enormen Vergrößerung des Rekrutierungspools.
Das Milieu der Corona-Leugner, Maßnahmenskeptiker und Impfgegner scheint in den deutschsprachigen Ländern besonders groß zu sein. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Es gab hier auch vor Corona schon eine deutlich größere Impfgegner-Szene als in anderen Ländern. Und wie gesagt war hier auch das alternative Informationssystem der Rechtsextremen schon sehr stark ausgebaut und musste für Corona nur noch geringfügig umfunktioniert werden, um die entsprechenden Falschmeldungen, Halbwahrheiten und Verschwörungsmythen zu produzieren.
Kann man ungefähr abschätzen, wie groß das Potenzial der Gewaltbereiten in den deutschsprachigen Ländern ist?
Das ist immer enorm schwierig abzuschätzen, aber basierend auf meinen Analysen dieser Netzwerke und was bei den Protesten passiert, würde ich sagen, dass zumindest fünf bis zehn Prozent der Mitglieder dieser Bewegungen auch gewaltbereit sind. Dieser harte Kern ist auch sehr lautstark und hat einen enormen Einfluss auf die generelle Entwicklung dieser Bewegung, weil er es schafft, diese antidemokratischen und auch antisemitischen Verschwörungsmythen Schritt für Schritt einfließen zu lassen. Und das birgt natürlich die Gefahr, dass Menschen, die zunächst nicht primär aus ideologischen Gründen mit dabei sind, sich auch noch radikalisieren können.
Halten Sie es für möglich, dass so etwas wie der Sturm auf das Kapitol in Washington auch bei uns passiert?
Ja, das ist eine reale Gefahr und absolut vorstellbar. Wir haben das ja bereits in Deutschland mit dem versuchten Sturm auf den Reichstag gesehen, wo offensichtlich wurde, wie groß die Aggression vor allem gegenüber demokratischen Institutionen ist. Mit der Einführung der Impfpflicht dürfte das Potenzial für Gewaltakte nun nochmals steigen.
Wie kann und soll der Staat beziehungsweise die Gesellschaft angesichts dieser Entwicklung dagegenhalten?
Was mir von Seiten der Politik fehlt, ist eine systematische Analyse, wer am stärksten emotional, mental und sozioökonomisch von der Krise betroffen ist. Denn es wäre natürlich wichtig, diese für Radikalisierung empfänglichen Gruppen proaktiv anzusprechen und Alternativen anzubieten, bevor es die Extremisten tun.
Das wird aber wohl nur ein Teil sein können, der andere wird polizeiliche und aufklärungsdienstliche Arbeit sein. Haben die Verfassungsschutzdienste diese Entwicklungen überhaupt ausreichend am Radar? Und haben sie auch die nötigen Mittel und die richtigen Methoden, um hier rechtzeitig reagieren zu können?
Grundsätzlich ist das schon auf dem Radar, es gab ja mittlerweile genug Gewaltvorfälle. Aber die Sicherheitsbehörden stehen vor enormen Herausforderungen, wenn es darum geht herauszufinden, wer zur konkreten Zielscheibe wird. Denn ebenso wie Verschwörungstheoretiker und Impfgegner die unterschiedlichsten politischen und sozioökonomischen Hintergründe haben, sind auch die Feindbilder sehr divers. Der Hass richtet sich gegen Politiker, Forscher, Pharmakonzerne und Mitarbeiter von Impfstationen. Aber auch Hollywood-Schauspieler und Künstler, die in größere Verschwörungsmythen eingebaut werden, sind betroffen. Und nicht zuletzt hat es gegen Journalisten seit Ausbruch der Pandemie immer mehr Gewalt gegeben.
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