Sangay hofft auf Dialog mit künftiger Führung in Peking.
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Lobsang Sangay (44), Chef der Exilregierung, fordert im Interview mit der Wiener Zeitung einen eigenen EU-Tibet-Koordinator und mehr Druck auf China
"Wiener Zeitung": Seit 61 Jahren kämpft Tibet mit friedlichen Mitteln für Autonomie, doch der kulturelle Völkermord und die chinesische Unterdrückung gehen unvermindert weiter. Glauben Sie, dass Sie eine friedliche Lösung des Konflikts noch erleben werden?
Lobsang Sangay: Ja, das glaube ich. 61 Jahre sind eine lange Zeit. Aber unser Tag wird kommen – und zwar bald. Denken Sie an Burma: Dort wurde nach Jahrzehnten der Militärdiktatur Oppositionsführerin San Suu Kyi freigelassen, sie nahm sogar an Parlamentswahlen teil.
Im Tibetischen Jugendkongress, der Jugendorganisation, wird der Ruf nach einem bewaffneten Widerstand gegen die chinesischeBesatzung lauter. Was sagen sie den jungen Aktivisten?
Der Jugendkongress als solcher fordert keinen bewaffneten Kampf, sondern die Unabhängigkeit. Es gibt aber einige Mitglieder, die nicht an den gewaltlosen Weg glauben, aber das ist deren persönliche Sichtweise. Sie haben das Recht dazu – die tibetische Gemeinschaft ist demokratisch.
Sie sprachen von Privatmeinungen. aber der Generalsekretär des Jugendkongresses, Dhondur Lhadar, sagte, Gewalt dürfe kein Tabu sein.
Es bleibt aber seine Privatmeinung. In jeder Freiheitsbewegung – wie in Südafrika oder einst in Indien – treten Meinungsverschiedenheiten zutage; bei uns natürlich auch. Wir haben Differenzen. Aber die Mehrheit steht hinter der Regierung, sie hat mich ja gewählt. In der Praxis werden wir Gewalt nicht billigen. Die Führung glaubt an das Prinzip der Gewaltlosigkeit und wird in dieser Frage keinen Kompromiss machen. Ebenso wenig wie beim Prinzip Demokratie.
Sie argumentieren, China schadet mit seiner Tibet-Politik seinem eigenen Image, deshalb müsste die Pekinger Führung Interesse an einer Lösung in der Tibet-Frage haben.
China spricht von friedlichem Aufbau. Aber es ist kein Frieden in Tibet. Chinas Führung spricht auch von der harmonischen Gesellschaft. Aber es ist keine Harmonie in Tibet. Die Situation in Tibet straft den eigenen Anspruch Lügen. China mag es nicht, wenn die Welt auf die Diskrepanz hinweist. Doch wenn China international respektiert werden will, dann muss es auch Tibet gegenüber Respekt entgegenbringen.
Zuletzt gab es 2008 Verhandlungen zwischen Peking und Gesandten der Exiladministration. Glauben Sie, dass sich nach dem Wechsel an der Spitze der chinesischen Führung im nächsten Jahr die Chancen für einen neuen Dialog erhöhen?
Die Offiziellen, die in Peking die Gespräche mit uns führten, waren nicht sehr geneigt, die Tibet-Frage voranzubringen. Wir warten bis heute auf eine Antwort auf ein Autonomie-Memorandum, das wir 2008 schriftlich überreichten. Ich hoffe es, dass mit neuen Gesichtern in Peking auch ein neuer politischer Annäherungsversuch möglich ist. Und hoffentlich werden die Themen weitsichtiger geführt als es vor vier Jahren der Fall war.
Sie kritisieren immer wieder das Schweigen der Regierungen zu den Menschenrechtsverbrechen, die in Tibet begangen werden. Glauben Sie, dass internationaler Druck irgendetwas an der verfahrenen Situation ändern würde.
Natürlich! Wir haben die internationale Gemeinschaft dringend ersucht, Druck auf China auszuüben. So wie die Lage derzeit in Tibet ist, kann es nicht weitergehen. Änderungen müssen her, es muss ein Wandel stattfinden. Und je deutlicher die Staatengemeinschaft die Menschenrechtsverletzungen und andere Probleme anspricht, desto mehr werden die führenden Politiker in Peking darauf hören.
Hört Peking denn auf Kritik von außen?
Selbst wenn es so scheinen sollte, als würde Kritik an ihnen abprallen, tut sie das keineswegs. Sie achten sehr darauf.
Können Sie mir ein Land nennen, das sich ernsthaft für die tibetische Sache einsetzt?
Die USA haben das Thema Tibet immer wieder aufs Tapet gebracht, manchmal sogar auf Präsidentenebene. Ebenso mehrere europäische Länder. Viele EU-Politiker haben die Tibet-Frage gegenüber der chinesischen Regierung angesprochen. Kürzlich empfing der britische Premier David Cameron seine Heiligkeit, den Dalai Lama. All dies sind Signale an Peking, dass die Frage nicht ignoriert wird.
Die österreichische Staatsführung tut sich schwer, ihn anlässlich seines Besuchs einen offiziellen Empfang zu bereiten. Die Treffen von Bundeskanzler Faymann und Vizekanzler Spindelegger wurden als privat deklariert, mit Ihnen sprach die Regierung überhaupt nicht.
Wir begrüßen die Treffen mit seiner Heiligkeit. Und ich freue mich über meine Gespräche mit mehreren Politikern. Ich denke, es war mutig von den Österreichern, für die Menschenrechte einzustehen. Das ist auch eine Botschaft an Chinas Regierung gewesen.
Offene Kritik an Chinas repressiver Tibet-Politik hört man dennoch selten? Sie wird bei der chinesischen Führung allenfalls leise hinter verschlossenen Türen deponiert – aus Angst vor einer Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen.
Das stimmt freilich. Klar wünscht man sich deutlichere Statements. Aber wir sind für jedes Wort und jede Tat dankbar. Und bitten zugleich, dass in Zukunft noch mehr getan wird.
So urgieren Sie etwa, dass die EU einen eigenen Tibet-Koordinator ernennt und dass eine EU-Delegation nach Lhasa reist.
Ja. Das ist korrekt.
<br style="font-style: italic;" /> Was erhoffen Sie sich von einer Fact-Finding-Mission?
Sie wäre sehr hilfreich für eine Objektivierung der Fakten. Wir wissen: In Tibet werden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Die chinesische Regierung sagt: stimmt nicht und spricht von Propaganda. Nach ihrer Tibet-Reise könnte die EU-Delegation den EU-Regierungen, aber auch der Regierung in Peking sagen: seht, das ist, was wir herausgefunden haben. Das geht in Tibet vor sich. Der Bericht könnte auch Fragen klären wie: Warum gibt es so einen Anstieg bei den Selbstverbrennungen von Tibetern, warum steigt die Zahl der Verhaftungen warum nehmen die außergerichtlichen Erschießungen zu? Die gewonnenen Erkenntnisse könnten der EU und Peking als Grundlage dienen, welche Änderungen in ihrer Tibet-Politik vorzunehmen sind.
Wie sind die bisherigen Reaktionen in der EU auf Ihren Vorschlag?
Manche Mitgliedsländer begrüßen das sehr, einige wollen darüber nachdenken und einige wenige haben Vorbehalte, vermutlich aufgrund des Drucks Pekings. Aber allgemein sehen wir eine positive Reaktion sowohl bezüglich des Frage des EU-Koordinators als auch bei der Tibet-Delegation. Aber die EU-Staaten müssen erst beraten und einen Konsens finden; das braucht Zeit.
Zur Lage in Tibet selbst: Dort haben sich bereits 35 Mönche und Nonnen aus Protest gegen die Unterdrückung oder purer Verzweiflung selbst angezündet. China bezeichnet diese Menschen als "Terroristen" und bezichtigt die tibetische Führung, sie zu der Tat zu ermuntern.
Das stimmt natürlich nicht. Die Verantwortung für diese tragischen Ereignisse tragen einzig und allein die Hardliner in Peking. Würden sie das Volk nicht so unterdrücken, gebe es auch keine Selbstverbrennungen. Wenn die chinesische Führung also derartige Taten nicht sehen will, muss sie lediglich die Repression und Unterdrückung zurückfahren.
Es soll Fälle gegeben haben, in denen Tibeter, die sich versucht haben anzuzünden, von den chinesischen Lokalbehörden verhaftet statt ins Spital gebracht wurden.
Das habe ich auch gehört. Die Menschen in Tibet stehen massiv unter Druck, und sie sind wirklich verzweifelt. Niemand will sich selbst anzünden, doch wenn die Freiheit auf Entwicklung dermaßen eingeschränkt ist, greifen manche zu diesem äußersten Mittel. Manche der Opfer sagten, es sei der einzige Weg, um ein Schlaglicht auf das Leiden des tibetischen Volkes zu werfen. Die Staatengemeinschaft, aber vor allem die Regierung in Peking sollen diese verzweifelten, höchst politischen Taten zum Anlass nehmen, ihre Politik zu überdenken.
Hunderte politische tibetische Gefangene, heißt es, sitzen in chinesischen Gefängnissen. Manche von ihnen erhielten 18 Jahre Haft, weil sie eine tibetische Flagge gehisst haben oder ein Bild des Dalai Lama besaßen. Wissen Sie, wie viele Häftlinge es genau gibt?
Etwa zwischen 850 und 1000, aber das sind Schätzungen. Nicht alle Fälle werden publik. Wir befürchten deshalb, dass die eigentliche Zahl noch deutlich höher liegt.
Sie haben im August die Führung der tibetischen Exilregierung übernommen. Fiel es Ihnen schwer, von Boston, wo sie 16 Jahre an der Harvard-Universität unterrichteten, ins nordindische Dharamsala, dem Sitz der Exilregierung, zu ziehen?
Physisch war die Umstellung durchaus schwierig. Wenn man von einer mit Zentralheizung ausgestatteten Wohnung in Boston in das schöne, aber frostige Dharamsala zieht, erfordert das einige Anpassung. Denn Zentralheizungen gibt es dort nicht. Im Winter ist es deshalb vor dem Haus wärmer als im Haus. Wenn die Sonne scheint, sind alle draußen. Ich hatte Gott sei dank wenig Zeit, über die Akklimatisierung nachzudenken. In meinem Job gibt es genug zu tun. Und meinen Starbucks-Kaffee brauche ich auch nicht mehr, ich bekomme indischen Tee.
Sie selbst sind ja auch im indischen Exil als Kind von Flüchtlingen aufgewachsen. Ihr Heimatland Tibet durften Sie nie betreten. Hilft Ihnen das Fehlen eigenen persönlicher Erinnerungen, weniger emotional und gelassener für die Freiheit und Selbstbestimmung Tibets zu kämpfen?
Als Tibeter bin ich genauso emotional und patriotisch wie meine Landsleute. Aber was meine politische Funktion betrifft, hilft mir das tatsächlich.
Der Dalai Lama ist 76. Im Vorjahr gab er die politische Führung ab, dennoch genießt er bei den Tibetern als religiöser Führer höchste Autorität und ist die wichtigste Integrationsfigur Wie wird es nach seinem Tod weitergehen?
Er ist zwar 76, aber sehr gesund. Er wird lange leben. So ist das derzeit keine Frage. Und: Seine Vision ist ein säkulares, demokratisches System für die Führung der tibetischen Bewegung. Dieser Prozess hat ja bereits begonnen. Und wir werden es weiter ausbauen. Und nicht zu vergessen ist auch: Der 15. Dalai Lama wird zurückkehren.
Sie meinen als Inkarnation seiner selbst. Aber der Suchprozess ist nach tibetischer Tradition sehr streng. Und in Tibet wird niemand einen Nachfolger finden dürfen, wie es jetzt aussieht. Wie wird man dieses Problem lösen?
An der Mission und Vision des vorigen Inkarnation anzuknüpfen. Also: Wenn ein Dalai Lama im Exil verstorben ist, wird er im Exil wiedergeboren.