Die Diagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen nehmen in Österreich nach wie vor zu. Betroffene haben jedoch weiterhin mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Neue Zugänge versuchen, Missverständnisse über Autismus aus dem Weg zu räumen.
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"Normale Menschen haben einen unglaublichen Mangel an Empathie", wird die bekannte amerikanische Tierzuchtforscherin und Autistin Temple Grandin oftmals zitiert. Denn ihr zufolge legen die meisten Menschen für gewöhnlich wenig Empathie an den Tag, wenn ein autistisches Kind wegen Reizüberflutung schreit oder ein autistischer Erwachsener auf dem Bahnhof bewusstlos umkippt, weil es dort für ihn viel zu laut, zu hell und zu geruchsintensiv ist. Für Autisten ist es mental wie körperlich sehr anstrengend, sich in dieser Welt zurechtzufinden.
Denn Autisten nehmen die Welt anders wahr und machen andere Erfahrungen als normale, neurotypische Menschen. Ihr Gehirn verarbeitet die Informationen anders - sei es durch die vielen Reize, die ungefiltert ins Gehirn eindringen, sei es durch die ungebremsten Ängste, die viele Autisten regelmäßig und intensiv überschwemmen. Die Welt der Mehrheitsgesellschaft ist ihnen fremd, und viele fragen sich zum Beispiel, warum manche Lügen akzeptabel sind und andere nicht, warum man "Wie geht’s?" sagt und nicht einfach "Hallo", wie lange man beim Grüßen jemandem die Hand gibt, und warum man nicht immer sagen darf, was man denkt. Durch das Fehlen von Filtern nehmen Autisten Informationen objektiver und vorurteilsfreier auf als die Mehrheitsbevölkerung. Eine rationalere Wahrnehmung der Welt ist eine Folge daraus, frei von rosaroten Brillen.
Lange Zeit dominierte die Vorstellung, Autisten seien nicht empathisch. Denn sie haben große Schwierigkeiten zu deuten, was ihr Gegenüber fühlt. Der britische Psychologe Simon Baron-Cohen hat dies mit einem Defizit der "Theory of Mind" erklärt, also der Möglichkeit, die mentalen Zustände anderer Menschen zu erschließen. Durch diesen Mangel fehle Autisten die Fähigkeit, sich in die Lage eines andern zu versetzen und zu verstehen, dass andere Menschen andere Gedanken, Wünsche und Bedürfnisse haben. Auch Probleme auf sprachlicher Ebene, wie ein mangelhaftes Verstehen von Metaphern etwa, ist auf dieses Defizit der "Theory of Mind" zurückzuführen. Sagt zum Beispiel jemand, er könne in die Luft gehen, weiß ein Autist mitunter nicht, dass diese Person wütend ist, sondern glaubt eher, dass sie Fernweh habe und wegfliegen möchte.
Verständnisschwierigkeiten
Die "Theory of Mind" wird nach wie vor im Diagnoseverfahren von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) eingesetzt und gilt als zuverlässiges Instrument, vor allem auch um feststellen zu können, ob es sich wirklich um eine Autismus-Spektrum-Störung handelt oder um etwas anderes. Mittlerweile weiß man aber auch, dass Autisten sehr wohl empathisch sein können. Sie besitzen zwar eine geringe kognitive Empathie, haben aber wiederum eine hohe affektive Empathie - des heißt, es fällt den meisten schwer zu erkennen, dass es jemandem schlecht geht, aber sobald sie um den Zustand ihres Gegenübers wissen, können sie darauf eingehen.
Auch der britische Sozialpsychologe Damian Milton hat in aktuellen Studien die gängige Vorstellung hinterfragt, dass die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten von Autisten generell eingeschränkt wären. Er spricht daher vom "Double Empathy Problem" um die Schwierigkeiten, die Autisten mit Nicht-Autisten (und umgekehrt) haben, zu beschreiben.
Milton kommt zu dem Schluss, dass beide Seiten ihr jeweiliges Gegenüber nicht verstünden. Er unterstreicht, dass soziale Situationen dynamische Prozesse zwischen Menschen seien, die keinen statischen, universalen Regeln unterlägen. Es sei daher nicht möglich, dass nur eine Person ein soziales Defizit habe. Vielmehr sei keiner an der sozialen Interaktion Beteiligten in der Lage, Gesten, Mimik oder Tonfall des anderen zu interpretieren.
"Anders heißt nicht schlechter"
"Neurodivergenten Menschen wäre oft schon damit geholfen, das ‚Problem‘ oder den ‚Fehler‘ nicht automatisch auf ihrer Seite zu suchen. Die permanente Botschaft, dass das eigene Denken und Wahrnehmen prinzipiell defizitär sei, trägt massiv zu psychischen Dauerbelastungen bei", sagt dazu Alice Laciny im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Die österreichische Wissenschafterin wurde vor einigen Jahren im Autismus-Spektrum diagnostiziert. Miltons "Double Empathie Problem" hält sie für ein schönes Beispiel für eine alternative Betrachtungsweise: "Anders heißt nicht immer schlechter, und zur effektiven Kommunikation gehören immer (mindestens) zwei. Natürlichen haben es Angehörige der gesellschaftlichen Mehrheit meist leichter, sich untereinander zu verstehen und ineinander hineinzuversetzen - je weiter die eigene Lebensrealität davon entfernt ist, desto schwieriger wird das."
Bereits als Kind tauchte Laciny lieber in die Welten von Sechsfüßlern ab, anstatt mit Gleichaltrigen zu spielen. Heute ist die 34-Jährige Präsidentin des Österreichischen Entomologenverbandes, hat in verschiedenen Forschungsprojekten mitgearbeitet sowie einige Ameisenarten in Zusammenarbeit erstbenannt. Und sie ist eine von wenigen Autisten, die die besondere Fähigkeit, sich tief und konzentriert mit einer bestimmten Materie auseinanderzusetzen, für ihren Beruf sehr gut nutzen können.
Flow-Erlebnisse
Was sie an Insekten so fasziniert? "Mich spricht die Morphologie am meisten an, also der Körperbau, die kleinteilige Zusammensetzung des Außenskeletts, die vielen verschiedenen Formen und Farben. Da mich Sprache ebenso begeistert wie Insekten, habe ich auch große Freude an der Benennung und Klassifizierung - sei es bei der Beschreibung und Namensgebung neuer Arten oder bei anatomischen Fachbegriffen."
Das Eintauchen in ein Thema ist eine von vielen Strategien, die Autisten das Leben erleichtern können. Konzentrierte Beschäftigung gibt Sicherheit, sie ermöglicht ein Gefühl von Kontrolle, von Vorhersehbarkeit und kann auch Entspannung und Erholung bringen. Der österreichische Autismus-Forscher Hans Asperger sprach einst gar von einem "Schuss Autismus", der für wissenschaftliche oder künstlerische Höchstleistungen nötig sei. "Zwei Ameisen mögen auf den ersten Blick völlig gleich aussehen, beide klein und braun. Im Mikroskop erkennt man dann feine Borsten, Muster in den Rillen des Panzers, Dornen am Rücken oder die einzelnen Facetten der Komplexaugen. Das ist einerseits für die Unterscheidung der Arten entscheidend, andererseits auch immer wieder ein schönes Erlebnis", führt Laciny ihre Faszination für Insekten weiter aus. Das Wissen, dass so viel Schönheit selbst in den kleinsten Dingen stecke, wenn man nur genau schaue, habe für sie "nicht nur wissenschaftlichen Wert, sondern durchaus etwas fast poetisches".
Der Alltag kann traumatisieren
Autisten haben viele Kompensationsstrategien, um in diese Welt zu passen. Sie lernen ihr soziales Verhalten durch Beobachtung, Kopieren und Anpassung, was jedoch in der Regel sehr anstrengend und erschöpfend ist. "Als gesellschaftliche Minderheit sind autistische Menschen dazu gezwungen, sich in einer Welt zurechtzufinden, die in vielen Fällen nicht für ihre Bedürfnisse ausgelegt ist", erläutert Laciny. Dies führe auf Dauer zu erhöhtem Stress durch sensorische und soziale Überlastung, und in weiterer Folge oft zu psychischen Problemen wie Burnout, Depressionen, Angststörungen oder gar Posttraumatischer Belastungsstörung.
Diese Problematiken seien kein Teil des Autismus an sich, betont Laciny weiter, sondern ergäben sich oft aus dem "Masking" - also der gefühlten oder tatsächlichen Notwendigkeit, Symptome und Eigenheiten zu unterdrücken, um den Anforderungen der neurotypischen Gesellschaft entsprechen zu können. "Nicht nur Insekten haben ökologische Nischen, auch Menschen können ganz verschiedene Ansprüche an ihren Lebensraum haben. Und wer sich weniger verstecken muss und individuelle Strategien der Selbstregulation - oft so simpel wie das Licht im Büro abschalten oder im Unterricht mit Knetmasse spielen - entwickeln und ausleben darf, kann dem oft anstrengenden Alltag mit mehr Resilienz begegnen."
Während Menschen mit leichten Autismus-Spektrum-Störungen trotz aller Anstrengung relativ normale Leben führen können und in der Regel keine bis wenig Unterstützung brauchen, haben Menschen mit schweren Beeinträchtigungen oft Betreuung rund um die Uhr nötig. Es gibt jedoch keine konkreten Zahlen, wie viele Menschen mit einer Diagnose von welchem Schweregrad betroffen sind. Schätzungen in den USA und Studien in Australien haben gezeigt, dass rund 40 Prozent mit schweren Symptomen leben müssen.
Zeitaufwendige Diagnose
In Österreich wird die Zahl der von Autismus-Spektrum-Störung Betroffenen auf rund 85.000 geschätzt, die Diagnosezahlen steigen vor allem unter Erwachsenen. So hat etwa die Österreichische Autistenhilfe im Jahr 2022 einen deutlichen Anstieg im Bereich Diagnostik von Erwachsenen verzeichnet - gegenüber 2021 eine Steigerung um mehr als 50 Prozent. Worauf ist dieser Anstieg zurückzuführen? Zum einen auf eine gesteigerte Sensibilisierung in der Gesellschaft. Zum anderen, heißt es seitens der Österreichischen Autistenhilfe, sei "dieser Trend unter anderem der in diversen Social-Media-Kanälen sehr beliebten Autismus-Spektrum-Störung-Thematik geschuldet, was einerseits wegen der höheren Aufmerksamkeit natürlich begrüßenswert ist, andererseits aber die Kapazitäten der ÖAH an ihre Grenzen bringt".
Eine Diagnose ist darüber hinaus ein sehr zeitaufwendiges Verfahren, es dauert durchschnittlich zwölf Stunden. Förderung und Unterstützung wirken jedoch umso effizienter auf den Entwicklungsverlauf, je früher Autismus-Spektrum-Störungen diagnostiziert werden - im Vergleich zu Betroffenen, die erst im Schulalter oder noch später gefördert werden: "Eine rasche Diagnose, die schon ab frühem Kindesalter möglich ist, steigert auch die Chancen auf eine gelungene Inklusion und damit auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben. Vor diesem Hintergrund sind die sehr langen Wartezeiten im Bereich Diagnostik und Therapie in ganz Österreich kritisch zu sehen", gibt die Österreichische Autistenhilfe, die auch als Dachverband Betroffener agiert, zu bedenken.
Auch andere Vereine klagen darüber, dass die Angebote für Betreuung, Förderung, Therapie und Diagnose in Österreich nicht ausreichen. Hinzu kommt, dass die Hilfsbedürfnisse von Autisten sehr unterschiedlich sind. Förderangebote und individuelle Unterstützung kommen dieser Realität aber kaum nach. "Im konkreten Fall von Autismus wäre es sicher hilfreich, von der Idee des linearen Spektrums abzukommen", meint Laciny hinsichtlich der unterschiedlichen Formen von Autismus und dahingehender Unterstützung.
Autismus sei ein multidimensionales Phänomen, das sich in der Alltagsrealität nicht so einfach in "leicht bis schwer" einteilen lasse. So könnten auch "hochfunktionale" Personen - sie spricht von "high masking" - zum beispiel extrem sensibel auf Sinnesreize reagieren oder phasenweise auf nonverbale Kommunikation angewiesen sein. Auf der anderen Seite kenne sie als "schwer" eingestufte Autisten, "die nie sprechen, motorische Einschränkungen haben, aber geniale Blogs und Bücher schreiben". Demnach wäre es für die Lebensrealität autistischer Personen oft sinnvoller, "den Zugang zu Unterstützung an tatsächliche, individuelle Bedürfnisse anzupassen".
Autismus ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung. Die aktuellen Diagnosebücher "DSM-5" (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, USA) und "ICD-11" (International Classification of Diseases, WHO) fassen alle Formen des Autismus in der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammen. Autismus ist angeboren und zu einem großen Teil genetisch bedingt. Allerdings ist nicht ein einzelnes Gen dafür verantwortlich, sondern sehr viele spielen eine Rolle. Inwieweit Umweltfaktoren für eine ASS relevant sind, ist noch nicht geklärt. Fest steht, dass Impfungen oder ein spezifischer Erziehungsstil nicht als Ursache angenommen werden können.
Die wesentlichen Kennzeichen von Autismus-Spektrum-Störungen sind (siehe auch Grafik): Informationen und Wahrnehmung werden anders verarbeitet, intensives, oft ungewöhnliches Interesse und wiederholte, stereotype Verhaltensweisen, Unterschiede in der sprachlichen Entwicklung und Schwierigkeiten mit der sozialen Kommunikation und Interaktion.
Autismus ist ein Spektrum, das bedeutet, dass die Betroffenen sehr unterschiedliche Symptome aufweisen. Während manche Menschen im Spektrum gar nicht sprechen, haben andere eine weitgehend normale Sprachentwicklung. Weist eine Person autistische Verhaltensweisen auf, die aber nicht für eine derartige Diagnose ausreichen, spricht man von autistischen Zügen.
Schätzungen zufolge sind weltweit bis zu 3 Prozent der Menschen autistisch. Autismus ist nicht heilbar, es gibt keine Behandlung oder Medikamente. Therapeutische Hilfe umfasst unter anderem eine spezielle Verhaltenstherapie (ABA), Logopädie, Psycho- und Ergotherapie sowie "TEACCH" - eine Methode zum Erlernen funktionaler Verhaltensweisen. Manche von Autismus betroffenen Menschen benötigen keine oder minimale Hilfe, vor allem im Alltag, andere wiederum brauchen umfassende Begleitung und Unterstützung. Der Bedarf kann im Laufe des Lebens variieren.