Das erste Ratstreffen der Europäischen Union, das das traditionell EU-kritische Schweden ab morgen in Stockholm ausrichtet, soll ein Ereignis für die EU-Bürger werden. Im Mittelpunkt steht die Beschäftigungssituation, will man doch den USA den Rang ablaufen. Eng verwoben mit der Beschäftigungspolitik ist die Sozialpolitik. Die EU hat aber im Sozialbereich kaum Zuständigkeiten. Die Sozialpolitik wird von den nationalen Behörden der Mitgliedstaaten geregelt. Eine Diskussion um die EU-Agrarreform ist bei dem EU-Treffen nicht erwünscht, hat Schweden bereits im Vorfeld klar gestellt. Angesichts der finanziellen Auswirkungen des Rinderwahnsinns und der Maul- und Klauenseuche wird Ratspräsident Göran Persson aber mit unangenehmen Fragen rechnen müssen.
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Die EU soll den USA künftig erfolgreich Paroli bieten können. Die Beschäftigungsquote soll bis zum Jahr 2005 von derzeit 61 Prozent auf 67 Prozent gehoben werden, besonders aber die Erwerbsquote der Frauen soll von 51 auf 57 Prozent steigen. Und bis 2010 soll die EU zum "dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum" der Welt werden. Darauf hat sich die EU vor einem Jahr in Lissabon festgelegt. In Stockholm wird nun die Kommission - die Hüterin der Gemeinschaftsverträge - Berichte über die Reformschritte der Mitgliedstaaten im Wirtschafts- und Sozialbereich vorlegen. Kommissionspräsident Romano Prodi hatte den Mitgliedsländern bereits vorgeworfen, bisher wenig unternommen zu haben.
Dass mehr Beschäftigte, also Steuerzahler, notwendig sind - nicht zuletzt zur weiteren Finanzierung des Sozial- und vor allem des Pensionssystems, darüber ist man sich in der Union einig. Hier haben alle EU-Mitglieder ähnliche Probleme. Wie sie gelöst werden können, darüber scheiden sich allerdings die Geister, je nachdem, welche Lobby wo stärker ist.
Tatsache ist: die europäische Bevölkerung wird immer älter (siehe Grafik). Die EU will den niedrigen Geburtenraten und den steigenden Pensionskosten entgegen steuern. Die EU brauche mehr Kinder, um ihren Wohlstand langfristig halten zu können. Der morgen beginnende EU-Rat in Stockholm wird daher beiläufig auch als "Babygipfel" bezeichnet. In Schweden selbst wirbt der einstige Tennisstar Björn Borg in Zeitungsinseraten gar für "Fuck for Future". Sex hat aber nicht automatisch etwas mit Kinderkriegen zu tun. Was also tun, um die Beschäftigungsrate mittelfristig zu erhöhen?
Energiemarkt liberalisieren
Die EU will den gemeinsamen Energie-, Gas- und Transportmarkt öffnen. In Lissabon haben die EU-15 vereinbart, die Energiemärkte ab 2005 für Anbieter aus anderen EU-Staaten und ab 2007 für die Konsumenten zu öffnen. Zur Förderung der Erwerbsquote beharrt die Kommission außerdem auf der Liberalisierung der Postdienste und des öffentlichen Beschaffungswesens. Bei der Liberalisierung sollen soziale Aspekte berücksichtigt werden. Zur Sicherung der Beschäftigungsqualität hat das EU-Parlament neue Indikatoren gefordert, wie Form und Dauer von Arbeitsverträgen, Arbeitsbedingungen, Gleichstellung von Mann und Frau etc. Die EU brauche größere gesetzgeberische Anstrengungen zur Schaffung eines gemeinschaftlichen Rechtsrahmens bei den neuen Arbeitsformen Telearbeit, Heimarbeit, Teilzeitbeschäftigung oder befristeten Arbeitsverträgen. Auf die Qualität der Arbeitsplätze pocht in Österreich auch die Arbeiterkammer (AK). Mit der Schaffung von neuen Jobs sei es nicht abgetan, gibt AK-Präsident Herbert Tumpel zu bedenken. Er mahnt "angemessene Löhne, soziale Sicherheit und hohe arbeitsrechtliche Standards" ein. Mit den Sozialpartnern will die EU bei der Umsetzung der Leitlinien von Lissabon kooperieren.
"Europa des Wissens"
Den "Faktor Arbeit" steuerlich zu entlasten, also die Lohnnebenkosten zu senken, ist eine alte Forderung der Arbeitgeberverbände. So könnten Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft weiterhin gesichert und Unternehmensgründungen gefördert werden, argumentiert Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl. Forschung und Entwicklung sollen gefördert und die lebensbegleitende Weiterbildung weiter entwickelt werden. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Finanzminister Karl-Heinz Grasser wünschen sich mehr Wettbewerb, auch in der Bildung. Die EU-Kommission hat ein "Memorandum über lebensbegleitendes Lernen" vorgelegt mit den Schwerpunkten IT-Fertigkeiten, Fremdsprachenkenntnisse und soziale Fähigkeiten. Die Bevölkerung ist eingeladen, über das Memorandum mitzudiskutieren (e-mail: lebenslangeslernen@bmbwk.gv.at). Die Strategie des ersten Beschäftigungsgipfels von Lissabon wird sich auch in der Projektförderung der Europäischen Investitionsbank (EIB) niederschlagen. Sie stellt in den nächsten drei Jahren 12 bis 15 Mrd. Euro für Investitionen in ein "Europa des Wissens" zur Verfügung.
Doch kurzfristig herrscht - trotz Arbeitslosigkeit - in bestimmten Branchen ein eklatanter Arbeitskräftemangel. Bereits jetzt fehlen in Europa 1,9 Millionen Spezialisten für Informationstechnik (IT), Telekommunikation und E-Business. Bis 2003 dürften EU-weit laut jüngsten Prognosen 3,8 Millionen Fachkräfte fehlen, wenn nichts unternommen wird. Um den Mangel an IT-Kräften zu decken, wurde in Deutschland etwa die Einführung einer "Green Card" diskutiert, die qualifizierten Arbeitnehmern aus Billiglohnländern den Aufenthalt ermöglichen sollte. Inder statt Kinder? Wohl kaum. Hat doch die österreichische Regierung erst das Kindergeld mit dem Hintergedanken beschlossen, dass dadurch die Österreicherinnen mehr Kinder gebären würden und Zuwanderung nicht notwendig sei.
Mit Zuwanderung gegen Mangel an IT-Kräften?
Diskutiert werden wird in Stockholm das Thema Zuwanderung im Zusammenhang mit der geplanten EU-Osterweiterung. Außenministerin Benita Ferrero-Waldner besteht auf einer siebenjährigen Übergangsfrist, innerhalb der sich Arbeitnehmer aus neuen EU-Ländern am Arbeitsmarkt in Österreich niederlassen können.
Schweden - von der nächsten Etappe der EU-Erweiterung weniger betroffen als Deutschland oder Österreich - setzt zur Hebung der Beschäftigungsquote auf eine kinder- und familienfreundliche Politik in der EU. Zu den in Lissabon vereinbarten 60 Indikatoren zählen neben der Beschäftigungsrate junger und älterer Arbeitnehmer unter anderem auch Kinderkrippen. Vor allem wenn mehr Frauen erwerbstätig sein sollen, müssten die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familienpflichten - die meist von Frauen übernommen werden - verbessert werden.
Kinderbetreuung
Dass der Frauenerwerbsanteil in Schweden (70,3 Prozent) deutlich höher sei als in Österreich (59,7 Prozent), führt der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz u.a. auf die umfassenden Kinderbetreuungseinrichtungen in dem skandinavischen Land zurück. Nur mit einer besseren Ausschöpfung des Arbeitspotenzials und mehr Zuwanderung könne der Mangel an Facharbeitskräften gedeckt werden, meint er. Zuwanderung aus dem Ausland alleine werde nicht reichen, glaubt der Präsident der Industriellenvereinigung, Peter Mitterbauer. Er plädiert daher dafür, "lieber die Frauenerwerbsquote durch Incentives zu heben". Mitterbauer nennt hier betriebliche Initiativen wie Betriebskindergärten.
Zudem müsse die Lebensarbeitszeit verlängert, also das Pensionsantrittsalter hinaufgesetzt werden, um die Rentensysteme zu sichern, fordert Bevölkerungsexperte Münz. Zur Modernisierung der Rentensysteme in der EU sollen in Stockholm erste Überlegungen von einem eigens eingesetzten Sozialausschuss vorgelegt werden. Wenn einer nicht mehr weiter weiß, gründet er einen Arbeitskreis: Nach diesem Motto könnte eine Expertengruppe eingesetzt werden, die eine größere Mobilität der Arbeitnehmer und die Behebung von Ausbildungsdefiziten etwa im IT-Bereich prüfen soll. Denn die EU-Sozialminister konnten sich nicht auf Zwischenziele in der Beschäftigungspolitik einigen. Die EU-Kommission hatte das Jahr 2005 vorgeschlagen. Ob es der EU gelingen wird, die USA bis 2010 als Wirtschafts- und Sozialunion zu überrunden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls soll es in Stockholm Schlussfolgerungen geben. "Wir müssen fähig sein", so Persson, "den EU-Bürgern konkrete Resultate zu präsentieren".
Außenpolitik
Weiters an der Tagesordnung sind in Stockholm die Krisenherde Mazedonien und Naher Osten. Neben dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wird auch der mazedonische Präsident Boris Trajkovski in Stockholm erwartet. Ratspräsident Persson soll zudem den Auftrag erteilt bekommen, im Konflikt zwischen Nord- und Südkorea zu vermitteln.
Die schwedische EU-Ratspräsidentschaft ist erreichbar im Internet unter: http://eu2001.se/.