Nationalratspräsident Sobotka über das Verhältnis des Parlaments zur Regierung und warum die Wähler immer recht haben.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Die Geschichte der heimischen Demokratie kommt mit einer Kleinschreibung des Parlaments aus. Parteien, Sozialpartner, Regierung geben seit jeher Takt und Richtung vor. Über die Folgen der erstmaligen Abwahl der Regierung sprach die "Wiener Zeitung" mit Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP).
"Wiener Zeitung": Der übliche Vorwurf lautet, die Regierung missachte das Parlament. Jetzt erleben wir die Situation, dass der Nationalrat die politische Linie der Regierung und des Bundespräsidenten konterkariert. Wie finden Sie das als Nationalratspräsident?
Wolfgang Sobotka: Also was die Vergangenheit angeht, so sehe ich die von manchen behauptete Missachtung des Parlaments nicht. Notwendig ist eine gute Zusammenarbeit mit der Regierung auf inhaltlicher Ebene und da wiederum mit den Ausschüssen und den Fachministern. Der Bundeskanzler muss nicht immer persönlich anwesend sein. Und auch jetzt kann ich keine Missachtung der Regierung durch den Nationalrat erkennen. Gesetzesentwürfe, die von den Ministerien kommen, werden wir genau so behandeln wie immer. Ich habe jede Woche einen Termin mit der Bundeskanzlerin, treffe mich mit Ministern: Aus meiner Sicht ist die Zusammenarbeit ausgezeichnet.
Mit dem Schönheitsfehler, dass diese Übergangsregierung und gemäß dem Auftrag des Bundespräsidenten appelliert, das Parlament möge bitte keine weitreichenden Entscheidungen treffen, sondern erst den Wählern das Wort erteilen.
Der Nationalrat nimmt für sich in Anspruch, die Monate bis zur Wahl nicht untätig verstreichen zu lassen. Derzeit liegen 81 Gesetzesanträge vor. Das ist grundsätzlich in Ordnung, solange keine Entscheidungen getroffen werden, die einen nachhaltigen Eingriff in die kommenden Legislaturperioden bedeuten. Ich appelliere hier an die Verantwortung der Abgeordneten.
Werden ÖVP und FPÖ noch liegen gebliebene Projekte beschließen?
Davon gehe ich aus, allerdings muss das von den Klubobleuten geklärt werden. Dazu zählen wohl die Umsetzung von Steuerreform und Mindestpension, auch der Papa-Monat und das Bildungsinvestitionsgesetz, allesamt wichtige Themen für die Menschen in unserem Land. Hier sehe ich auch keine großen Kontroversen, weil die Vorhaben in die mittelfristige Budgetplanung eingespeist sind. Die Anzahl von 81 Anträgen täuscht aber aus meiner Sicht: Nicht alle sind mit einer Fristsetzung versehen, nicht alle haben Chancen auf eine Mehrheit. Aber wir erleben sicher intensive Zeiten und natürlich versucht jede Fraktion, Themen zu setzen und sich zu positionieren.
Wie viele Sondersitzungen werden wir bis zum Wahltag erleben?
Das ist ein Blick in die Glaskugel. Zwei, drei ab Mitte August würden mich nicht überraschen, aber das ist Sache der Klubs.
Komplexe Gesetze könnte der Nationalrat nicht allein erarbeiten, weil die legistische Expertise fehlt. Ist das ein grundsätzlicher Nachteil, der jetzt zum Vorteil wird?
Das Parlament verfügt sehr wohl über erhebliches legistisches Fachwissen, nicht zuletzt auch in den Klubs; Änderungen am Sozialversicherungsgesetz oder die Details einer Steuerreform wären damit aber wohl nicht umfassend abzuarbeiten. Das ist auch nicht notwendig. Das Parlament hat die Regierung zu kontrollieren - das geschieht durch die Opposition, den Rechnungshof, die Volksanwälte, auch durch die Administration selbst. Die Erarbeitung komplizierter Gesetzesmaterien sollte in Zusammenarbeit mit der Expertise der Ministerien erfolgen.
Beim "freien Spiel der Kräfte" stellt sich die Frage nach Berechenbarkeit und Verantwortung in der Demokratie. Die Entscheidung für das Aus des Abdullah-Zentrums etwa lässt sich leicht beschließen, aber schwer umsetzen, weil dahinter internationale Verträge stehen.
Die Verantwortung existiert, und sie liegt bei den Parteien, die sich dazu entschließen, kurzfristige Entscheidungen zu treffen, die lange Nachwirkungen haben.
Diese Verantwortung ist allerdings abstrakt, weil die Parteien nicht für die Umsetzung sorgen müssen.
Das sehe ich nicht so: Von den konkreten Parteien lässt sich Verantwortung sehr wohl einfordern. Es ist Sache der Klubführungen, solche Spontanaktionen zu verhindern, in diese Richtung gehen auch die Appelle von Bundespräsident und Kanzlerin, denen ich mich ausdrücklich anschließe. Das Aus für das Abdullah-Zentrum war einer extremen Dynamik geschuldet, aber diese Kritik darf nicht zulasten des Parlamentarismus gehen, da muss man die Kinder schon beim Namen nennen. Es war sicherlich keine Sternstunde. So gesehen braucht der Parlamentarismus tatsächlich Berechenbarkeit, und dafür wiederum klare Strukturen.
Justizminister Clemens Jabloner hat an die Abgeordneten appelliert, keine isolierte Entscheidung über die Einführung der Ministeranklage als Minderheitenrecht zu treffen, nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern weil dies Folgen für weitere Rechtsbereiche habe, die gesamthaft betrachtet werden müssten. Wie stehen Sie zur Ministeranklage als Minderheitenrecht?
Ich bin dafür, die politischen Minderheitenrechte im Parlament sinnvoll zu schärfen, aber strikt dagegen, die Politik in den Gerichtssaal zu verlegen. Minister sind nicht immun, es gibt genug Wege, ein Regierungsmitglied bei Rechtsverstößen zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen. Im Parlament soll die politische Auseinandersetzung mit politischen Mitteln im Zentrum stehen.
Ist Österreichs Parlamentarismus bereit für neue Regierungsformen? Die Mehrheitsfindung nach den Wahlen könnte kompliziert werden.
Die Politik besteht aus Kompromissen; je vernünftiger ein Kompromiss und je weniger sich die Partner dabei verbiegen müssen, desto einfacher ist das Regieren. Möglich ist vieles, wichtig sind stabile Strukturen. Österreich ist auf allen Ebenen international vernetzt und verbunden, das erfordert Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, was ein klares Regierungsprogramm notwendig macht. Wer dann das Ganze oder Teile davon unterstützt, ist eine andere Frage. Was es braucht, ist ein klares Programm für eine Legislaturperiode, damit Österreich ein verlässlicher Partner bleibt. Und das steht jetzt im Moment tatsächlich am Prüfstand.
Dass der nach dem Ibiza-Video zurückgetretene Heinz-Christian Strache nun offen mit der Spitzenkandidatur für die FPÖ bei der Wien-Wahl 2020 liebäugelt, könnte zum Schluss verleiten, dass in Österreichs Politik einfach alles geht.
Ich finde es richtig, dass wir im Parlament keinen moralischen Kodex jenseits strafrechtlicher Normen für die Abgeordneten kennen. Hier muss die Eigenverantwortung greifen: Wenn wir alles regeln müssen, wo es um Anstand und Benehmen in der Öffentlichkeit geht, dann unterwerfen wir uns einem engen, kasuistischen System, das über Gebühr einengt. Der Ruf danach wird immer dann laut, wenn jemand diesen allgemein akzeptierten Rahmen verlässt. Für mich ist es dann an den Wählern, ein Urteil zu fällen.
Die Wähler haben Strache mit 45.000 Vorzugsstimmen zu einem EU-Mandat verholfen.
Das ist zu akzeptieren. Das Wählervotum ist in einer Demokratie sakrosankt. Man kann das nicht mit einem moralischen Index versehen, weil es Willkür Tor und Tür öffnen würde. Demokratie ist keine perfekte Organisationsform, oberstes Gebot bleibt die Einhaltung des Rechtsrahmens.
Dann anders gefragt: Sollte die Karriere Straches nach "Ibiza" Vergangenheit sein?
Dieses Urteil steht mir in meiner Funktion nicht zu. Moral ist keine Kategorie, die der Rechtsnorm verpflichtet ist. Das muss jeder Politiker und jede Partei selbst entscheiden.
Was war Ihr erster Gedanke, als Sie das Video vom Gebet für Sebastian Kurz bei einer evangelikalen Veranstaltung gesehen haben?
Ich glaube, es war überdeutlich, dass er sich unwohl gefühlt hat. Als Politiker kommt man im Rahmen von Veranstaltungen manchmal in Situationen, die man sich lieber erspart hätte. Oft glauben die Gastgeber, einem etwas Gutes tun zu müssen, das sich dann ins Gegenteil verkehrt.
Treten Sie im Herbst als Spitzenkandidat der ÖVP in Niederösterreich wieder an?
Ich wurde gefragt, aber die Gremien haben noch nicht getagt und diesen möchte ich auch nicht vorgreifen.