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Der Kampfbegriff der Arbeiterschafft ist im Internet zu einer hohlen Worthülse verkommen.
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"Je suis Charlie". Regenbogenfarbige Profilbilder. Tausende schütten sich eiskaltes Wasser über den Schädel. Solidarität flutet das Netz. Solidarität mit den ermordeten Redakteuren des französischen Satiremagazins! Solidarität mit den Lesben und Schwulen der Welt! Solidarität mit ALS-Patienten! Solidarität wohin man blickt. Mit Stefanie Sargnagel! Mit Deniz Yücel! Mit den Flüchtlingen! Mit Robbenbabys!
Das Internet ist wohl doch ein paradiesischer Ort. Ein Ort, in dem man aufeinander achtet. Ein Ort, in dem Ungerechtigkeit gnadenlos angeprangert wird. In der Türkei wird ein Journalist verhaftet? Schnell den richtigen Hashtag suchen und #freeTurkeyJournalists twittern. Puh, gerade noch rechtzeitig. Ich habe etwas getan. Ich habe Flagge bekannt. Ich zeige mich solidarisch!
Anna Walentynowicz rotiert im Grab. Für die polnische Kranführerin und spätere Mitbegründerin der Gewerkschaft "Solidarność" war Solidarität ein Kampfbegriff, eine Waffe gegen die kommunistische Herrschaft. Sich solidarisch mit einem entlassenen Arbeiter zu zeigen, bedeutete, selbst die Arbeit niederzulegen. Solidarität konnte Druck erzeugen. Solidarität, das war Streik genauso wie Sabotage. Die Arbeiter schlossen sich in solidarischen Organisationen zusammen und kämpften gegen Ausbeutung oder Unterdrückung durch ein totalitäres System. Im Falle der Gewerkschaft "Solidarność" trug dies wesentlich zur politischen Wende 1989 bei.
Heute ist davon wenig geblieben. Solidarität ist ein zahnloses Pferd, ein hohle Worthülse. Zumindest die Art von Solidarität, die sich von den Wohnzimmern des Westens wie ein Lauffeuer im Internet verbreitet und sich in Hashtags und Profilbildern manifestiert. Sie wird gar nichts verändern, weder Homophobie noch Terrorismus besiegen. Man wird die türkischen Journalisten nicht freitwittern können und mit lustigen Videos keine Krankheiten heilen.
Und auch wenn es gut gemeint ist, bleibt am Ende nur der schaler Geschmack der Selbstdarstellung. "Jede Widerstandsgeste, die kein Risiko in sich birgt und keine Wirkung hat, ist nichts als geltungssüchtig", brachte es der, von Josef Hader gespielte, Stefan Zweig im Film "Vor der Morgenröte" auf den Punkt.
Oder die ausgerufene Solidarität – und das ist fast schlimmer – verwandelt sich in Bedauern. Und Bedauern ist ein Gefühl der Wohlhabenden für die leidend Schwachen. Doch Solidarität ist mit Gleichheit verknüpft. Sie stellt Menschen auf eine Stufe. Solidarität tut weh. Ihr wird mit einem neuen Profilbild nicht genüge getan.