Die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft lässt vermehrt Pflegebedürftigkeit erwarten. Die Politik ist hier gefragt, Lösungen zu ermöglichen, die nicht in erster Linie auf Hospitalisierung bauen, sondern den Menschen ein Verbleiben in ihrer vertrauten Umgebung ermöglichen. Dazu müssen einerseits Öffnungen am Arbeitsmarkt für ausländisches Personal erfolgen, andererseits ist jeder Einzelne durch aktive Solidarität zu persönlichem Handeln gefordert.
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Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, wird medizinisch gesehen in Anbetracht der steigenden Lebenserwartung sowie der Errungenschaften im Kampf gegen todbringende Krankheiten steigen. Trotz der bereits mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Schaffung des Pflegegeldes und der teilweisen sozialrechtlichen Absicherung von Personen, die schwer pflegebedürftige Personen betreuen, kommen zur Bewältigung dieses Risikos noch große Herausforderungen auf unsere Gesellschaft zu:
Diese werden in Anbetracht der medizinischen Entwicklungen und der abnehmenden familiären Bindungen zunächst institutioneller Natur sein. So ist zum Beispiel mit Verlagerungen im Gesundheitssektor zu rechnen, wo neben akutgeriatrischen Behandlungsplätzen auch ein steigender Bedarf an stationären Pflegeplätzen zu erwarten ist.
Dennoch kann es nicht der Weisheit letzter Schluss sein, Pflegeplätze auszuweiten, wenn man davon ausgeht, dass die institutionelle Pflege auf Grund der Arbeitskosten für die Betreuungspersonen immer deutlich teurer sein wird als die Behandlung, Betreuung, Pflege und das Wohnen im häuslichen Umfeld. Es wird vielmehr notwendig sein, durch den Ausbau extramuraler Einrichtungen die Hospitalisierung so weit wie möglich zu vermeiden.
In medizinischen Fragen wird dabei neben dem Ausbau mobiler Dienste vor allem die Anbindung des Krankenhauses an den niedergelassenen Bereich zu forcieren sein: Krankenpflegepersonen und Ärzte, die in Krankenanstalten beschäftigt sind, sollten mit der Behandlung bzw. Betreuung bereits vor der Einweisung beginnen bzw. auch außerhalb der Krankenanstalt fortsetzen können. Darüber hinaus sollte eine Ausweitung der extramuralen Betreuung angestrebt und Hilfen für die im häuslichen Bereich tätigen Pflegepersonen ausgebaut werden: Betreuungs-personen muss Fachwissen vermittelt, Unterstützung in ihrer Tätigkeit gegeben und Supervision zugänglich sein, weil sie andernfalls überfordert sein werden. Assistenz, Familienhilfe, Heimhilfen, Vertretungen für Urlaube und Erholungsphasen ("Sitterdienst" für Pflegefälle) sind unverzichtbare Voraussetzungen dafür, dass Menschen die extramurale Betreuung zu übernehmen bzw. übernehmen können sollen.
Und schließlich werden auch andere Formen der sozialen Stützung pflegebedürftiger Personen, wie Gesprächsbesuche, Erledigung von Einkäufen, Hilfe bei der Nahrungszubereitung und -aufnahme zu leisten sein, deren Fehlen zu Hospitalisierung führen kann.
Ein besonderes Problem in diesem Zusammenhang wird sein, dass es nicht ausreichend Menschen für die Verrichtung dieser Tätigkeiten geben wird, wenn man auf Arbeitnehmer setzt: Bereits heute fehlen in manchen Gegenden Österreichs Menschen, die als Arbeitnehmer für Pflegetätigkeiten im häuslichen Bereich ein-gesetzt werden können. Pflegebedürftige und deren Angehörige sehen sich oft gezwungen, auf illegal beschäftigte ausländische Arbeitskräfte zurückzugreifen. Dies betrifft nicht nur qualifizierte Pflegetätigkeiten, sondern auch die erwähnten stützenden Tätigkeiten. Wer diesen Zustand für unbefriedigend hält, wird entweder den Arbeitsmarkt auch für diese Tätigkeiten für Ausländer öffnen müssen oder bereit sein, selbst tätig zu sein.
Darin sehe ich eine neue Herausforderung der Solidarität: Zur Bewältigung des Pflegerisikos wird es nicht mehr damit getan sein, Solidarität in Form von Beiträgen und Steuern zu üben, sondern auch durch aktives eigenes persönliches Handeln.
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Mazal lehrt und forscht am Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien.