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Solidarität - eine Reflexion

Von Ernest G. Pichlbauer

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Dr. Ernest G. Pichlbauer ist unabhängiger Gesundheitsökonom und Publizist.

Politiker und Sozialpartner tun so, als ob in der Bevölkerung eine tragfähige Solidarität bestünde. Sie dürfte aber eher aufgezwungen als freiwillig sein - und das ist etwas anderes.


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Herr M. (62) ist in Invaliditätspension, weil er, so sagen Gutachter, nicht mehr arbeiten kann. Grund wären sein Rücken und seine Knie - alles erheblich abgenützt. 40 Jahre hat er als Maurer gearbeitet, die letzten 15 davon als Polier und sein Job könnte durchaus als körperlich anstrengend bezeichnet werden.

Der wahre, oder wenigstens sehr wesentliche, Grund für seine Invalidität liegt aber woanders. Herr M. bringt auf seine knapp 1,75 Meter Körpergröße mehr als 100 Kilogramm auf die Waage. Er ist also fett. Zudem trinkt er täglich etwa fünf Bier, liebt es, üppig zu essen und viel zu rauchen. Dass er Diabetiker ist und unter Bluthochdruck leidet, muss kaum extra erwähnt werden.

Wissenschaftlich betrachtet, ist Herr M. für seinen Gesundheitszustand über weite Teile selbst verantwortlich. Das weiß er auch. Schließlich erzählt ihm seit Jahren jeder - vom Hausarzt bis zu seinen Kindern -, dass er sich noch "umbringen" werde. Solche Warnungen wurden leichtfertig abgetan. Wenn man krank ist, geht man zum Arzt, der macht einen wieder gesund.

Vor zwei Jahren hat Herr M. sein Ziel, die Frühpension, erreicht. Die ist zwar mager, kann aber durch Pfusch leicht aufgefettet werden. Und weil er chronisch krank, aber unbelehrbar ist, geht er oft zum Arzt, ein- bis zweimal pro Jahr ins Spital und schluckt haufenweise Medikamente.

Dass das viel Geld kostet, ist ihm egal. Er hat ja ein Leben lang einbezahlt und jetzt ein Recht darauf. Da allerdings täuscht er sich gewaltig. Denn bezahlt wird alles nach dem Solidaritätsprinzip. Das bedeutet, dass Herr M. sich darauf verlassen muss, dass irgendwer sich mit ihm solidarisch erklärt und die anfallenden Kosten freiwillig übernimmt. Aber warum sollte das jemand tun? Er selbst stellt sich die Frage übrigens nicht - für ihn ist wichtig, dass alles bezahlt wird. Woher das Geld kommt, ist ihm herzlich egal.

Wenn Solidarität fehlt, wird das Geld nur durch Zwang aufgebracht werden können. Menschen haben sich schon seit langem zu Gemeinschaften zusammengeschlossen, um sich gegenseitig zu helfen. Mit der Gründung solcher Solidargemeinschaften konnten sich ihre Mitglieder sowohl gegen wirtschaftliche als auch politische Unbilden "absichern". Basis dieser freiwilligen und selbstverwalteten Zusammenschlüsse war stets das Bekenntnis zu etwas Gemeinsamem, zu dem jeder seinen Beitrag liefern muss; darin liegt der Solidaritätsgedanke, der theoretisch auch unserem Sozialversicherungssystem unterlegt ist.

In wie weit es diesen Gedanken nach 1955 (dem Jahr der Einführung des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes, ASVG) gab, ist ohnehin zu hinterfragen. Hier herrschte immer ein "unfreies" Pflichtsystem. Ja selbst die Mitbestimmung der Mitglieder ist fragwürdig, da sie fast ausschließlich über Kammerwahlen möglich ist. Wer die Wahlbeteiligung in diesen Organisationen mit Pflichtmitgliedschaft kennt, weiß, dass Mitbestimmung kaum stattfindet.

In unserem System steckt also bereits sehr viel Zwang, was der Förderung des Solidaritätsgedanken nicht dienlich ist. Nichtsdestotrotz wird seitens der Politik (inklusive der Kammern) daran festgehalten und so getan, als ob er unverbrüchlich besteht.

Nun, man kann hoffen, dass die gepredigte Solidarität nie in der Realität geprüft wird. Gefühlt besteht sie längst nicht mehr. Weder von denen, die von ihr profitieren, noch von denen, die dafür aufkommen.

Dr. Ernest G. Pichlbauer ist unabhängiger Gesundheits ökonom und Publizist.