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Soll man Ungeborene auf Autismus testen?

Von WZ-Korrespondentin Anna van Ommen

Wissen

Möglicherweise ist Autismus schon vor der Geburt feststellbar. | Heftige Debatten in Großbritannien. | London. Forscher in Cambridge haben eine Verbindung zwischen hohen Testosteron-Anteilen im Fruchtwasser und der Verhaltens- und Entwicklungsstörung von Autisten festgestellt. Damit wäre der Weg frei für künftige Tests - und für Abtreibungen.


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Schwierigkeiten beim Umgang mit Mitmenschen, Lernstörungen und repetitives Verhalten sind nur einige der Merkmale, die bei Autisten einmal mehr, einmal weniger ausgeprägt sind. Das Spektrum reicht von gravierenden Verhaltensstörungen bis zu außerordentlichen Talenten, was eine Diagnose oft erschwert. Jetzt ist Forschern der Universität Cambridge ein Durchbruch gelungen, der ganz neue ethische Fragen aufwirft.

Das Forschungszentrum für Autismus in Cambridge hat 235 Kinder bis zu ihrem achten Lebensjahr untersucht. Dabei wies das Fruchtwasser der Mütter von Kindern mit autistischen Verhaltensmerkmalen hohe Anteile des Testosteron-Hormons auf. Diese Erkenntnis macht den Weg frei für Tests bei Schwangeren. So könnte schon an Ungeborenen festgestellt werden, ob sie autistisch sind - und die Eltern könnten daraufhin entscheiden, ob sie die Schwangerschaft abbrechen wollen. Bis der Test praxistauglich ist, dürften noch einige Jahre vergehen.

Professor wünscht sich Ethik-Diskussion

Professor Simon Baron-Cohen, Direktor des Instituts, will jetzt eine Debatte über die Folgen anregen: "Wären solche Tests wünschenswert? Was würde uns verloren gehen, wenn Kinder mit autistischem Spektrum von der Gesellschaft ausgeschlossen würden?", fragte der Wissenschafter.

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) treten je nach Ausprägung bei zehn bis 25 von 10.000 Menschen autistische Störungen auf. In Großbritannien sind rund 600.000 Menschen von Autismus betroffen. Bei Buben tritt das Verhaltensmuster viermal häufiger auf als bei Mädchen.

Genies wie im Film "Rainman", in dem der von Dustin Hoffman dargestellte Autist durch sein mathematisches Geschick im Kasino Millionen gewinnt, sind eher selten. Doch der in Aussicht gestellte Autismus-Tests gäbe Künstlern wie Stephen Wiltshire keine Chance. Der 34-Jährige wuchs stumm auf und wurde mit Autismus diagnostiziert. Er begann im Alter von fünf Jahren zu malen und zeichnete bald ganze Stadtpanoramen. Nach einem kurzen Helikopterflug über Tokio zeichnete der Brite die ganze Stadt - aus dem Gedächtnis. Wiltshire hat inzwischen eine Galerie eröffnet.

Eltern von autistischen Kindern sind mehrheitlich gegen solche Tests. Sie befürchten, das Verständnis und die Unterstützung für Betroffene würden dadurch beeinträchtigt. Doch es gibt auch positive Reaktionen. So glauben einige Mitglieder der britischen Autismus-Vereinigung, Eltern könnten sich in Folge eines Positiv-Befunds besser auf die Zukunft mit einem autistischen Kind vorbereiten. Zurzeit lässt sich Autismus erst im Alter von zwei bis drei Jahren feststellen. Die Forschung könnte allerdings auch neue Behandlungsmöglichkeiten erlauben. So wäre es unter Umständen möglich, das Testosteron-Hormon während der Schwangerschaft zu blocken. Doch ob das erwünscht sei, steht nach Ansicht von Baron-Cohen ebenfalls zur Diskussion.

Computer-Hacker mit Asperger-Syndrom

Dass Autismus zwischen Krankheit und Genie schwankt, zeigt auch das Beispiel des britischen Computer-Hackers Gary McKinnon. Der 42-Jährige wird seit Jahren beschuldigt, in die Computer der Nasa und des Pentagons eingedrungen zu sein. Die Amerikaner fordern eine Auslieferung des Briten.

Inzwischen geht man davon aus, dass McKinnon am Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus, die nach dem berühmten Wiener Kinderarzt benannt ist, leidet. "Viele Menschen mit Asperger-Syndrom haben ein ausgeprägtes Rechtsgefühl und starke Fixierungen, die sie in Schwierigkeiten bringen können. Bei Gary waren es Computer", erklärte Janis Sharp, die Mutter des Angeklagten. Die britische Autismus-Vereinigung will eine Auslieferung McKinnons in die USA verhindern. Dort würden ihm 70 Jahre Haft blühen.