Unter dem Titel "Eine gefährliche Moralisierung" ("Wiener Zeitung", 2. April 2011) warnt Rudolf Burger eindringlich vor moralischen Politikern. Politisches Handeln der Moral zu unterwerfen, heißt nach Burger nichts anderes, als es an privaten, familiären Maßstäben zu messen. Politiker haben sich an Gesetze zu halten und sonst nichts, und was von den Gesetzen nicht verboten ist, ist eben erlaubt. Moral in der Politik wäre gefährlich, denn sie behindert die Staatsraison.
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Versteht man unter Moral jene Verhaltensregeln, die von Mitgliedern der Gesellschaft für gut gehalten werden, auch wenn sie gar nicht oder noch nicht in die Form staatlichen, mit Gewalt vollstreckbaren Rechts gegossen sind, ist Burgers Warnung weltfremd. Nicht selten nämlich wurzelt die politische Initiative zu Rechtsänderungen in moralischen Vorstellungen von Gerechtigkeit, müssen sich diese Vorstellungen daher öffentliches Gehör verschaffen, im politischen Diskurs bewähren und setzen sich schließlich in der Gesetzgebung durch oder scheitern. Der Fristenlösung oder der schrittweisen, noch nicht abgeschlossenen Erringung der Chancengleichheit der Geschlechter in Beruf und Politik etwa gingen und gehen noch immer solche moralisch inspirierte Gerechtigkeitsdiskurse voraus.
Eine Interessenvertretung ohne Rücksicht auf Aspekte moralischer Gerechtigkeit, die professionelle Interessenvertreter vielleicht im familiären Umfeld durchaus anerkennen, auf politischer Ebene aber zynisch ignorieren, ist, wenn sie, wie im Falle Ernst Strassers, an die Öffentlichkeit dringt, daher mit gutem Grund nicht nur Anlass für gerichtliche Verfahren, sondern auch für moralische Empörung.
Moral ist das Ergebnis eines kulturell bedingten Prozesses der je unterschiedlichen Bewertung menschlichen Verhaltens, unterliegt daher stetigem Wandel und hat kein Monopol. Wo verschiedene Wertvorstellungen (etwa von Christen, Muslimen und Agnostikern) aufeinander treffen, begegnen einander nicht nur, aber sicher auch kontroversielle Vorstellungen von "gut" und "gerecht". Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die das zur Folge hat, müssen öffentlich und politisch geführt werden. Sie durch Verbannung der Moral in eine biedermeierliche Privatheit zu vermeiden, ist nur in totalitären Systemen möglich und auch dort nicht auf Dauer.
Auch Burgers Beispiel aus der Antike hinkt: Der herrische und anmaßende Agamemnon hatte Artemis durch einen Jagdfrevel erzürnt. Die Göttin ließ daher die Winde, die die Flotte der Griechen nach Troja bringen sollten, in die falsche Richtung blasen. Statt Iphigenie, seine eigene Tochter, zu opfern, um Artemis zu besänftigen und den Feldzug zu retten, hätte Agamemnon - Moral vorausgesetzt - auch selbst zurücktreten, einem anderen, etwa dem trefflichen Achilles, den Oberbefehl überlassen und so die Staatsraison retten können. Wenn es denn überhaupt um Staatsraison ging. Die Griechen zogen ja, so der Mythos, nur gegen Troja los, um den Raub der schönen Helena zu rächen. Sie hatten also ein moralisches Motiv.
Peter Warta ist Jurist und Publizist in Wien.