"¡Qué se vayan todos!" - "Sollen sie doch alle gehen." Diese wütende Forderung jagte nach tagelangen Protesten im Dezember 2001 Argentiniens Präsidenten Fernando De la Rúa (Radikale Partei/UCR) aus dem Amt. Sie hat sich tief in das Gedächtnis der Argentinier eingegraben - und klingt dort ohnmächtig dem nach, was damals wie ein möglicher Neuanfang aussah. Denn außer der Regierung von De la Rúa ist niemand gegangen. In Argentinien blieben die gleichen Eliten an der Macht, die am wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch des Landes Mitschuld tragen und Teil des korrupten politischen Apparates sind. Nun stellen sie sich auch noch am 27. April zur Präsidentschaftswahl. Eine Wahl, die stärker als alles der argentinischen Gesellschaft den Spiegel vorhält.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Das politische System im Land ist zur Fassade verkommen. Schon ein kurzer Blick auf die Geschehnisse im Dezember 2001 macht deutlich, wie sehr sich die Machtverhältnisse in Argentinien verschoben und der demokratischen Kontrolle entzogen haben. Es gibt inzwischen vielfache Hinweise dafür (und ein Verfahren, das diesen nachgeht), dass die Flucht von Fernando De la Rúa nicht alleine von der Straße erzwungen, sondern im Komplott vorbereitet wurde. Der Journalist Miguel Bonasso veröffentlichte Aussagen, nach denen der heutige peronistische Präsident Eduardo Duhalde (PJ) die Amtsübernahme geplant und die Plünderungen, das Chaos und die Gewalt hat anheizen lassen. Mehr als 30 Menschen wurden damals zum Teil gezielt erschossen. Deshalb fragen sich inzwischen viele Argentinier ernsthaft, ob sie nicht eher in einer Art verkleideter ziviler und wirtschaftlicher Diktatur leben.
Nicht einmal die kommende Präsidentschaftswahl ändert dieses düstere Szenario. Im Gegenteil. Das Wort Wahlkampf ist in seiner ursprünglichsten Bedeutung zu verstehen. Den Intrigen lässt sich kaum noch folgen. Etablierte Politiker handeln wie eine Kaste für sich, losgelöst von den Nöten und Bedürfnissen des Volkes. Es geht - die Ränke untereinander zeigen dies ungeschminkt - in erster Linie um Machterhalt und Machtgewinn, nicht aber um das Schicksal des Landes.
Selbst fünf Tage vor der Wahl ist das Ergebnis vollkommen offen. Keiner der fünf Präsidentschaftskandidaten mit den "größten" Wahlchancen (siehe Kasten) wird am 27. April die notwendigen 45 %der Stimmen erhalten. Lediglich zwischen 12 und 17% scheint jeder von ihnen auf sich vereinen zu können. "Das einzig Sichere an dieser Wahl ist eine zweite Runde am 18. Mai. Doch wer in diese kommen wird, bleibt die Jahrhundertfrage", sagt Analía del Franco vom Statistikinstitut Analogías. Denn mal liegt der eine, mal der andere vorne. Grund: Kein Kandidat hebt sich durch ein Konzept ab. Der Wahlkampf wird nur als Schlammschlacht gegen die anderen geführt.
Nichts verdeutlicht besser das Dilemma der Bevölkerung als die Leserbriefe an die Zeitungen. "Das Problem sind nicht die Wahlen, sondern die Kandidaten", heißt es da. Oder: "Ich glaube an die Demokratie. Aber wir sind heute weit von ihr entfernt, weil der Wille des Volkes nicht beachtet wird". Viele Argentinier werden, dem Wahlzwang gehorchend, am Sonntag zwar zur Wahl gehen, aber möglicherweise niemanden wählen. Oder, wie schon bei den letzten Kongresswahlen 1999, die Kandidatenlisten streichen und Mickeymaus oder Pinocchio ihre "Stimme" geben. Einige Organisationen der sozialen Bewegungen rufen gar zum Boykott auf. "In der Demokratie haben wir nur einen Weg, diejenigen zu bestrafen, die aus der Politik eine Industrie gemacht haben. Wir müssen ihnen die Legitimität unserer Stimmen nehmen. Das ist das einzige, was sie wirklich fürchten", schreibt ein Leser. "Egal, wer gewinnt, die neue Regierung wird höchstens ein Viertel der Bevölkerung 'repräsentieren', wobei davon auszugehen ist, dass diese Stimmen nur dem geringeren Übel gelten", sagt die Politologin Cecilia Lucca.
Wie mit einer solchen Regierung die nötigen Reformen zum Wiederaufbau des Landes angegangen werden sollen, ist völlig ungewiss. Dabei ist Handeln dringend geboten. In nur einem Jahr verarmte mehr als die Hälfte der Argentinier. Die Mittelschicht, lange der Stolz des Landes, ist von der gesellschaftlichen Bildfläche fast völlig verschwunden. Knapp 20% offizielle Arbeitslosigkeit - die Dunkelziffer liegt weit höher - die Abwertung des Peso und die mehr als ein Jahr in den Banken okkupierten Ersparnisse trieben viele in den Ruin. Längst geht es nicht mehr darum, was man arbeitet, sondern ob man überhaupt arbeitet. Schon vor dem Zusammenbruch des Landes zeigte die zunehmende Zahl von Straßenverkäufern und Schuhputzern, dass viele irgendwie versuchten, ein paar Pesos zu verdienen.
Heute leben allein in Buenos Aires über 100.000 Argentinier vom Müll der anderen. Ganze Familien ziehen nachts mit Karren durch die Straßen und versuchen, schneller als die Müllabfuhr zu sein. Mit bloßen Händen sammeln sie Papier und Karton für einige Centavos, die nicht einmal zum Überleben reichen. Die Schulspeisung, für viele Kinder das einzige Essen am Tag, ist vielerorts nicht mehr finanzierbar. Immer mehr Fünf- bis Zwölfjährige vagabundieren durch die Städte, betteln und schlafen in Hauseingängen. Unzählige Familien wurden obdachlos. "Selbst unsere Würde haben sie uns gestohlen", bringt Taxifahrer Alejandro Carrizo die Verbitterung auf den Punkt.
Solidarität und
Selbstorganisation
Jahrzehntelang fühlten sich die Argentinier den sozialen Problemen Brasiliens überlegen. Heute klafft die Schere zwischen arm und reich bei ihnen genauso weit auseinander wie im Nachbarland. Beschämt werden die Nachrichten von Kindern verfolgt, die in der größten Fleischnation der Erde an Hunger sterben - alleine in der Provinz Tucumán waren es im letzten Jahr 360. Doch genau in diesen Sektoren, die von der Politik zuerst verkauft und dann vergessen wurden, erwachen längst totgeglaubte Ideen von Solidarität, direkter Demokratie und Kooperation. Sie erwachsen aus der Notwendigkeit, gemeinsam ums nackte Überleben zu kämpfen. "In diesem Land, wo das Chaos von oben kommt, fängt alles an, sich von unten zu reorganisieren", schreibt der Journalist Miguel Bonasso. Ob Suppenküchen, Unterricht für die Kinder, Hausbau für Obdachlose oder die gemeinschaftliche Selbstversorgung mit Kartoffeln aus kleinen Gärten - alles wird selbst in die Hand genommen. In der Not wurde hier eine neue soziale Bewegung geboren. Sie setzt mit ihrer Arbeit und ihren Protesten genau dort an, wo die Politik die Argentinier alleine gelassen hat. Nachbarschaftsversammlungen kümmern sich um die konkreten Probleme ihres Stadtteils. Bauernorganisationen kämpfen um Land und Saatgut. Arbeiter besetzten 140 Betriebe, die geschlossen werden sollten oder gar seit Jahren nicht mehr funktionieren und verwalten sie in Kooperativen selbst. Genau fünf Tage vor der Wahl wurde jetzt medienwirksam die Textilfabrik Brukman in Buenos Aires geräumt. Im Dezember 2001 nahmen dort die Näherinnen die Produktion in die eigene Hand, nachdem die Besitzer verschwanden und den letzten Lohn nicht mehr bezahlten. Seitdem schwelt der Streit um die Fabrik. Die jetzt angezettelte Gewalt wird von allen Kandidaten im Wahlendspurt für die eigenen Zwecke genutzt. Die Arbeiterinnen aber lassen sich nicht unterkriegen. Sie campieren vor der Fabrik, unterstützt von den sogenannten Piqueteros, den Arbeitslosenorganisationen.
Sie haben das größte Gewicht in der sozialen Bewegung. Lediglich 150 Pesos (47 US-Dollar) pro Monat werden arbeitslosen Familien vom Staat gezahlt. Davon können sie nicht einmal eine Woche leben. Über die Hälfte der 16.000 Demonstrationen im letzten Jahr wurden deshalb von Piqueteros durchgeführt. Trotzdem bleibt diese reine Selbsthilfe unbefriedigend. Sie ist ein Hoffnungsschimmer - die Strukturen der Armut aber ändert sie nicht. Doch warum schicken diese Bewegungen dann keinen eigenen Kandidaten in die Wahl?
Die meisten Organisationen sind zu wenig politisiert und beschränken sich auf den Kampf um ihre Grundbedürfnisse. Diejenigen, die auch Politik zu ihrem Anliegen machen, fordern eine verfassungsgebende Versammlung, denn nur eine so tief greifende Reform könnte ihrer Meinung nach das korrupte System Argentiniens ändern. Der Kommunist Luis Zamorra, beliebt gerade in diesen Sektoren, hatte sich jedoch schon vor Monaten aus dem Wahlkampf zurückgezogen - er wollte nicht auch intrigieren müssen. Er resignierte, weil eine starke Opposition zu den etablierten Kandidaten an der Zerstrittenheit der Linken scheiterte und er einsah, dass es in diesem Wahlkampf keine Gerechtigkeit gibt.
Eine Stimme für ein Tetrapak Wein
Denn vor allem die Peronisten üben über Gewerkschaften, Medien, Justiz und "Geschenke" an die Ärmsten eine Allmacht im Land aus, die jeden anderen Kandidaten an den Rand drängt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass vor allem auf dem Land Stimmen für ein Tetrapak Wein und ein paar Pesos gekauft werden. Über ein eng geknüpftes System der sogenannten Punteros kontrollieren die Peronisten weite Teile der Gesellschaft. Die Punteros, selbst zumeist arme Menschen, die auf Vorteile hoffen, sind für die Verteilung sozialer Hilfe in ihrer Umgebung verantwortlich - wenn die ideologische Einstellung der Betroffenen stimmt.
An einem solchen Stimmenfang wird auch die Wahlbeobachterkommission der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) nichts ändern, die nun angereist ist. Im Gegenteil. Am Wahltag werden mit großer Wahrscheinlichkeit alle Spielregeln der Demokratie eingehalten werden. Denn nicht die Wahl selbst ist der Betrug am eigenen Volk, sondern was sich in Argentinien hinter den Kulissen von Politik, Wirtschaft und Justiz abspielt.