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"Sollten stolz darauf sein, dass alle nach Europa wollen"

Von Michael Schmölzer aus Straßburg

Politik

"Rede zur Lage der Union" im EU-Parlament. Vorerst sollen 160.000 Flüchtlinge verteilt werden. | Brüssel will dauerhaft verpflichtende Quote. Wer sich weigert, könnte sanktioniert werden.


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Straßburg. Mit Jean-Claude Juncker hielt am Mittwoch erstmals ein demokratisch gewählter EU-Kommissionspräsident die "Rede zur Lage der Union" im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg. Angesichts der akuten Flüchtlingskrise war die Spannung im Saal spürbar. Das, was dann kam, war eine hochpolitische, eindringliche Ansprache. Juncker, der unmittelbar den Tod seiner Mutter zu verkraften hatte, fand angesichts des Asyl-Chaos deutliche Worte: Die Europäische Union sei in "keinem guten Zustand", nahm er sein Resumee vorweg, es sei an der Zeit, "entschlossen zu handeln".

Der Kommissionschef bemühte die Geschichte Europas: "Wir alle waren zu bestimmten Zeitpunkten Flüchtlinge." Juncker erinnerte an die Vertreibung der Hugenotten im 17. Jahrhundert aus Frankreich, an die Vertreibung der Juden, an die in Opfer des Nazi-Terrors und die spanischen Republikaner unter Franco.

"Wer sind wir?"

Und er erinnerte an die Ungarn, die 1956 den Sowjet-Panzern entkamen, und die Tschechen und Slowaken, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 ins Exil gingen. "Es gibt mehr McDonalds in den USA als in Schottland, 20 Millionen Polen leben außerhalb von Polen. Haben wir das vergessen?", fragte Juncker die EU-Parlamentarier, die fallweise mit ihrer Skepsis nicht hinter dem Berg hielten. Die Aufnahme von Flüchtlingen sei einer der wichtigsten Werte und Europa "ein Ort des Schutzes", so Juncker. Wenn jeder vierte Mensch im Libanon Flüchtling sei, in Europa derzeit aber nur 0,11 Prozent der Bevölkerung, obwohl der Libanon nur über ein Fünftel des Wohlstandes der EU-Staaten verfüge, "dann müssen wir fragen: Wer sind wir?" Im Vergleich mit der Türkei, dem Libanon und Jordanien habe Europa bis jetzt "nicht genug getan". Die EU-Randstaaten Italien, Griechenland und Ungarn, die unter dem geltenden Dublin-III-Regime die Hauptlast schultern, dürften "nicht allein gelassen werden".

160.000 Schutzsuchende sollen laut Juncker vorerst auf die Staaten der EU aufgeteilt werden. Geplant sei ein "permanenter Umverteilungsmechanismus", gegen den sich einige Mitgliedstaaten mit Händen und Füßen wehren, darunter Ungarn, aber auch die Slowakei sowie die baltischen Staaten. Wobei Juncker vor Journalisten klarmachte, dass es bei der "bescheidenen" Zahl 160.000 nicht bleiben werde. Der geplante Mechanismus werde eine "andere Tragweite" haben. Deshalb sind Berechnungen, wie viele Flüchtlinge Österreich unter dem Plan der Kommission aufnehmen müsste, nur Momentaufnahmen.

"Fürchtet Euch nicht"

Wenn ein EU-Land von der Teilnahme freigestellt werden wolle, müsse es sich mit einer Begründung an die Kommission wenden, so Juncker. Dann sei es möglich, dass dieses Land unter dem Stichwort "Co-Finanzierung" Beiträge zahle. Er wolle vorerst aber nicht mit Drohungen arbeiten, betonte der Kommissionschef.

"Das sind Menschen, keine Zahlen", sagte Juncker über die Flüchtenden. Vor Medienvertretern meinte er über die Skepsis in den EU-Mitgliedstaaten: "Wäre ich Papst, würde ich sagen: ,Fürchtet Euch nicht‘." Dabei dürfe kein Unterschied zwischen Christen, Juden und Muslimen gemacht werden. "Wenn Menschen zu uns kommen, geht es nicht um Religion und Überzeugung." Außerdem sei es an der Zeit, "ein bisschen stolz zu sein, dass Europa der Ort ist, wo alle hinwollen".

Es müsse eine Liste sicherer Drittstaaten erstellt werden, wobei Juncker klarmachte, dass ein Staat, der nicht als sicheres Drittland gelte, keine Chance auf einen EU-Beitritt habe. Es sei auch möglich, Länder wieder von der Liste der sicheren Drittstaaten zu streichen. Die Türkei und die Westbalkan-Staaten seien mit Sicherheit solche sicheren Drittstaaten. Außerdem sprach sich Juncker dafür aus, dass Asylwerber ab dem Tag, an dem sie ihren Antrag stellen, arbeiten dürfen. "Da geht es um die Würde." Ein verstärkter Schutz der EU-Außengrenze seit zwar nötig, so Juncker, aber: "Schengen wird unter dieser Kommission nicht abgeschafft." Zudem soll bis 2016 sichergestellt werden, dass es für Flüchtlinge legale Möglichkeiten für die Einreise in die EU gibt.

"Dublin funktioniert nicht"

Und schließlich, in Anspielung auf die jüngsten Übergriffe Rechtsradikaler auf Flüchtlingsheime in Deutschland: "Brände legen und wegschauen, das ist nicht Europa."

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz versicherte Juncker bei einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass das Parlament mehrheitlich hinter den Vorschlägen der Kommission stehe. Auch Schulz übte massive Kritik am Asyl-Chaos in Europa. Es habe sich jener "Inter-Gouvernementalismus" breitgemacht, bei dem jeder Nationalstaat sein Süppchen koche. Nun seien wieder die EU-Institutionen am Wort.

Die österreichische grüne EU-Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europaparlaments, Ulrike Lunacek, trat in ihrer Rede vor dem EU-Parlament für den von Juncker so vehement geforderten verbindlichen Verteilungsschlüssel bei der Aufnahme von Flüchtlingen ein. "Dublin III funktioniert nicht mehr", stellte Lunacek fest. Außerdem setze sie sich dafür ein, Flüchtlingen legale Wege zur Einreise zu ermöglichen.

Der für Migration zuständige EU-Kommissar Dimitri Avramopoulos betonte in seiner Ansprache, dass man nun rasch handeln müsse. Bereits Juncker hatte darauf hingewiesen, dass der Winter nahe und man die Menschen nicht, wie das oft bisher der Fall sei, auf der Straße lassen könne. Allerdings scheinen es die EU-Staaten in der Flüchtlingsfrage nicht besonders eilig zu haben. Der nächste Gipfel der Innenminister ist für den 14. September angesetzt.

Auch Avramopoulos zeigte sich zuversichtlich, dass die EU-Mitgliedsländer künftig mehr Flüchtlinge aufnehmen werden als bisher. In der EU-Kommission sei jedenfalls eine eigene Arbeitsgruppe eingerichtet worden.