diarium
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Unten hatten sich viele Leute versammelt, die gespannt nach oben starrten. Einige klatschten in die Hände und riefen: "Springen!" Ort der Handlung war zum Glück kein Hochhaus, sondern ein Freibad-Gelände um einen Zehnmeter-Sprungturm. Solch elegante Denkmäler sommerlicher Mutproben findet man nur mehr selten, stattdessen fast überall plumpe Ungetüme von Riesenrutschen. Ein Massenvergnügen, wie die langen Warteschlangen beweisen, während sich auf einen hohen Sprungturm nur Auserwählte trauen. Nicht alle sind Sprung-Ästheten, wie manch schmerzhafter Bauchfleck zeigt, bei dem zwar nicht die Eleganz, aber die Courage beklatscht wird. Mit Recht: Der Zehner ist das Höchste an Herausforderung, die ein Schwimmbad zu bieten hat. Die nächste Stufe wäre Klippenspringen.
Die gemischten Gefühle, die so ein Sprung mit sich bringt, hat David Foster Wallace grandios in der Kurzgeschichte "Für immer ganz oben" beschrieben (Storysammlung "Kurze Interviews mit fiesen Männern"): An seinem dreizehnten Geburtstag entschließt sich ein Bub, das Unternehmen erstmals zu wagen. Der Turm ist hoch genug, damit Wallace eine Vorstellung davon vermitteln kann, welch Überwindung es allein kostet, die vielen schmalen Stufen hinaufzuklettern und die Menschen unten immer kleiner werden zu sehen, während der entscheidende Moment näher rückt: "Für immer unten ist der raue Beton, Snackbar, die dünne blecherne Musik, unten, wo auch du einmal gewesen bist. Die Schlange hört einfach nicht auf und hat keinen Rückwärtsgang. Und das Wasser ist nur weich, wenn du drin bist. Schau nach unten. . ."
Diese Geschichte ging mir durch den Kopf, als ich jüngst die unterschiedlichen Springer-Charaktere beobachtete: die wild Entschlossenen, denen das Denken nicht in die Quere kommen darf, die Zaghaften, die sichtliche Kämpfe ausfechten, bis sie endlich doch springen. Jene, die Anlauf nehmen, und jene, die sich einfach fallen lassen. Jene, die sich vor Publikum produzieren und jene, die sich von den Zuschauern genauso einschüchtern lassen wie von der Tiefe. Jene, die mit Genuss und jene, die aus Verzweiflung springen, weil sie den Weg zurück nicht für einen Ausweg halten. Jene, die einen eleganten Salto oder Kopfsprung schaffen und jene, die lieber umkehren und hinunterklettern - was vor Publikum ebenso viel Mut erfordert.
Es handelte sich ausschließlich um Buben und junge Männer, aber dann kam sie: höchstens zehn Jahre alt, schmal und knochig, Zöpfchenfrisur, und kletterte entschlossen die Stufen hinauf. Droben auf der Plattform stand sie mit großem Ernst, kein Zaudern und Zögern, kein Blick hinunter oder Heischen nach Aufmerksamkeit, nur ein Moment der Konzentration, eine letzte Anspannung des Körpers, dann ein gelassener Anlauf, der Absprung ein bloßer Schritt über die Schwelle, der Flug aufrecht und kerzengerade. Nahezu lautlos tauchte sie ins Wasser. - Auch ein Motto, das man aus einem schönen Sommer mitnehmen kann: Klettere nach oben und tu es!
Irene Prugger, geb. 1959, lebt als Autorin und freie Journalistin in Mils in Tirol.