Zum Hauptinhalt springen

Sonderbare Wortspenden helfen den Libyern nicht

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare

"Erst kommt das Fressen, dann die Moral", befand Bert Brecht über die menschliche Natur. Angewandt auf Libyen: Erst kommen die nationalen Interessen, dann die Menschenrechte. Kein Wunder, da doch Libyen auf einer der weltgrößten Reserven an Erdöl und Erdgas sitzt und unter anderem ein Viertel des italienischen Bedarfs an diesen Schmiermitteln der Wirtschaft deckt. Erstaunlich ist dennoch, dass es der zivilisierte Welt länger als eine Woche die Sprache verschlug, ehe sie sich an Klartexte wagte.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Deutschlands Außenminister verblüffte mit der Erkenntnis, Muammar Gaddafi sei ein "Diktator". Frankreichs Präsident fand das Gemetzel in Libyen "schockierend", der US-Präsident "abscheulich". Der Weltsicherheitsrat äußerte sich einstimmig, also auch mit Chinas Stimme, "sehr besorgt" über Gaddafis chinesische Methode, Demonstrationen blutig niederzuwalzen - allerdings nicht mittels Resolution, sondern unverbindlicher Wortspende. Den Vogel schoss Italiens Premier ab, den an Gaddafi seit 2009 eine "echte und tiefe Freundschaft bindet": Er wolle in Libyen "nicht stören". Bleibt noch Fidel Castros Warnung an seinen Freund Gaddafi, Washington werde der Nato befehlen, "in dieses reiche Land einzumarschieren".

Aber die zivilisierte Welt zückte auch einen Knüppel. Zehn Tage nach Ausbruch der libyschen Revolution "erwog" sie ein Embargo und das Einfrieren der libyschen Konten. Die EU stoppte den 344 Millionen Euro schweren Waffenexport nach Libyen. Gegen wen brauchte Gaddafi denn Waffen außer gegen sein eigenes Volk?

Gleichwohl scheuchten die Vorgänge in Nordafrika und im Jemen zwei Angsthasen auf. Bahrain ließ hunderte Mitglieder der unterdrückten schiitischen Mehrheit frei, und Saudi-Arabien bequemte sich erstmals in seiner Geschichte zur Unterstützung seiner 10 Prozent Arbeitslosen.

Die Kehrseite der Medaille mildert allerdings den verheerenden Eindruck des Wortgetöses der zivilisierten Welt. Das Völkerrecht verbietet jede Einmischung in innere Angelegenheiten souveräner Staaten; wirtschaftliche Sanktionen treffen nicht die Übeltäter, sondern ihre Opfer; Gaddafi hätte tausende westliche Experten in Geiselhaft nehmen können. Den Ausweg aus diesem Dilemma wies UN-Generalsekretär Ban Ki-moon: Gaddafi und seine Häscher seien vor ein internationales Tribunal zu stellen. Gut gemeint, aber vorher müsste man sie erwischen. Auf zwei von ihnen wäre allerdings schon der Zugriff frei: auf den Innen- und den Justizminister, die den Terror ihres Chefs exekutierten, nun kalte Füße bekamen und zu den Revolutionären desertierten. Sie haben perfekt Mao Zedongs berühmten Grundsatz umgesetzt: "Politische Macht wächst aus Gewehrläufen!"

Fragt sich noch, warum die zivilisierte Welt jetzt so "verblüfft" über die libysche Revolution tut. Was trieben denn ihre Diplomaten und Geheimdienstler in Tripolis? Und wer plante was in zivilisierten Staatskanzleien für einen möglichen "Tag X" in Libyen?

Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".