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Schreck. Bei der Station Rathausplatz wäre beinahe eine Frau in die Bim gesprungen. Ein fremder Mann an ihrer Seite riss sie in letzter Sekunde zurück. Unbekümmert setzt die 2er-Linie mit ihrem Inkognito-Chauffeur die Ring-Runde fort. Vorbei an japanischen Touristen, die beim Parlament in T-Shirts fotografieren. Vorbei an der Baumallee, wo grüne Blätter sprießen - während im Wohnzimmer zu Hause längst die Heizung auf Hochbetrieb rennt. Der Wiener Kabelsender W24 macht zu nächtlicher Stunde Werbung für den öffentlichen Verkehr vom Feinsten. Stundenlang kann der Fernsehzuschauer live dabei sein, wie abwechselnd Straßenbahnen, Fiaker oder ein rikschaartiges rotes Velomobil unspektakulär durch Wiens Straßen kurven. Ganz anders als im wirklichen Leben gibt es in der TV-Sendung "Nachtschiene" keine alten, dem Verfaulen geweihte Tramwägen und keine Fahrer, die einem vor der Nase hinterhältig wegfahren. Hier ein Tüt des Ticketautomaten, dort Pferdegeklapper, sonst Stille. Durch die Fernsehröhre betrachtet verläuft das Leben da draußen mit niedrigem Puls und gemächlich, nicht aber immer sittlich. Da befreit sich diese Stute doch tatsächlich vor den Augen des Betrachters - in Großaufnahme - von ihrem krapfenförmigen Ballast. Von einer Pferdewindel ist zumindest im Fernsehen weit und breit keine Spur. Man hat das Gefühl, dass der Fiakerfahrer - er ist meist nur mit der Rückenansicht seines Gilets und dem hervorstehenden verzwirbelten Schnurrbart im Bild - ständig etwas dazu sagen möchte, doch sich wegen der Kamera nicht traut. Der wohlverdiente Schlaf holt einen ein, als die Szene in den Würstelprater wechselt: Fünf Runden mit der Liliput-Bahn.