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"Sonst schlagen wir die Bonzen tot"

Von Rolf Steininger

Wissen
Empörte DDR-Bürger protestieren in Ost-Berlin. Die Sowjets schickten in der Folge Panzer, die USA Lebensmittelpakete.
© National Archives II, College Park, Maryland

Vor 65 Jahren, am 17. Juni 1953, kam es im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat zu einem Aufstand.


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Am Morgen des 16. Juni 1953 marschierten mehrere hundert Bauarbeiter in der Stalinallee in Ost-Berlin mit einem Transparent - "Wir fordern Herabsetzung der Normen" - zum Sitz des Gewerkschaftsvorsitzenden. Dort angekommen, waren es schon 10.000 Demonstranten, die politische Forderungen stellten wie: "Wir wollen Freiheit, Recht und Brot, sonst schlagen wir die Bonzen tot." Informationen über die Ereignisse breiteten sich wie ein Lauffeuer in der gesamten DDR aus.

Ausnahmezustand

Die Unruhen erfassten schon bald mehr als 700 Orte in der DDR; in 593 Betrieben wurde gestreikt, die Zahl der Streikenden betrug über eine halbe Million. Es war ein Aufstand gegen die SED, mit der Forderung nach Abschaffung des Systems und freien Wahlen, also auch nach der Wiedervereinigung.

Am Mittwoch, 17. Juni, wurde um 13 Uhr vom sowjetischen Militärkommandanten der Ausnahmezustand in Ost-Berlin verhängt, in weiteren 13 Bezirks- und 51 Kreisstädten in den folgenden Stunden. Schließlich galt das Kriegsrecht in 167 von insgesamt 217 Stadt- und Landkreisen. Über den massiven Einsatz sowjetischer Truppen war bereits am Abend vorher in Moskau entschieden worden. Sowjetische Panzer - allein in Ost-Berlin 600 - walzten den Aufstand nieder. Schusswaffen kamen in Ost- Berlin sowie in den Bezirken Potsdam, Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg zum Einsatz. Es gab insgesamt 125 Tote, darunter sieben Lynchmorde an Angehörigen der Kasernierten Volkspolizei. 33 Opfer starben an den Folgen von Schussverletzungen.

Im Führungsgremium der SED herrschte in den Tagen des Aufstandes ein desolater Zustand. Die Genossen, von den Ereignissen völlig überrascht, waren handlungsunfähig und brachten sich bei den Sowjets in deren Hauptquartier Karlshorst in Sicherheit. Umso härter schlugen sie zurück, nachdem sowjetische Panzer die Kontrolle wiederhergestellt hatten: Bis zum 22. Juni wurden 6750 Personen in Ost-Berlin und in der DDR verhaftet, 1600 verurteilt; 20 Todesurteile wurden vollstreckt.

Wie war es zu diesem 17. Juni gekommen?

Die DDR befand sich Anfang der 50er Jahre in einer tiefen inneren Krise, deren Ursachen auf die Politik der SED seit ihrer Gründung zurückzuführen waren. Die entscheidende Zäsur bildete der von SED-Chef Walter Ulbricht im Juli 1952 proklamierte "planmäßige Aufbau des Sozialismus".

Er bedeutete die radikale Veränderung der gesellschaftlichen Struktur in der DDR. Die Entwicklung, die die DDR bis dahin genommen hatte, sollte vertieft und beschleunigt, damit aber auch eine mögliche Annäherung an die Bundesrepublik oder gar eine Wiedervereinigung erschwert werden. Und dann fasste das Zentralkomitee der SED Mitte Mai 1953 einen folgenschweren Beschluss, nämlich die Erhöhung aller Arbeitsnormen in volkseigenen Betrieben um mindestens zehn Prozent - bei gleichbleibendem Lohn.

Sowjetische Panzer patroullieren in den Juni-Tagen 1953 in Berlin . . .
© Bettmann /gettyimages

Es kam zu ersten Unruhen und Streiks. Die SED-Führung wurde daraufhin für den 2. und 3. Juni nach Moskau zitiert, wo Stalin drei Monate zuvor gestorben war und die neue Führung unter Nikita Chruschtschow noch nicht fest im Sattel saß. Möglicherweise war das mit ein Grund dafür, was sich in Moskau abspielte.

Die Sowjets äußerten nämlich ihre tiefe Beunruhigung über die in der DDR entstandene Lage und forderten von den SED-Genossen eine Kursänderung. Das Politbüro der SED beschloss daraufhin am 9. Juni den "Neuen Kurs", ohne allerdings die Erhöhung der Normen zurückzunehmen. Die Arbeiter waren empört; entsprechend war ihre unmittelbare Reaktion, wobei die Forderungen teilweise bereits weitergingen: "Wir wollen keine Lohnkürzungen, wir wollen Butter statt Kanonen, weg mit der SED-Regierung, die Ausbeute der Arbeiterklasse. Freiheit!", stand am 13. Juni im volkseigenen Betrieb "Optima Erfurt" am Schwarzen Brett.

Der 17. Juni ist ein Schlüsselereignis in der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte. Dieser frühe Aufstand gegen die zweite deutsche Diktatur war der erste innerhalb des sowjetischen Imperiums. Jahrzehntelang lautete die Sprachregelung in der DDR, der 17. Juni sei ein von außen gesteuerter "faschistischer Putsch" gewesen, der lange vorausgeplante "Tag X". Wissenschaftlich durfte dieser Aufstand in der DDR allerdings nicht erforscht werden; Veröffentlichungen dazu gab es nicht. Das Ereignis wurde zu einem "Un-Datum". Die Machthaber fürchteten bis zuletzt eine Neuauflage des Aufstandes.

Gerade deshalb versuchten sie, jede Erinnerung daran zumindest aus der öffentlichen Wahrnehmung zu tilgen. Wo in größeren Geschichtswerken das Geschehen der Chronologie wegen nicht unerwähnt bleiben konnte, verkam seine Darstellung zu purer Propaganda und leeren Phrasen, die ritualmäßig wiederholt wurden.

Geschenk des Himmels

Für all jene im Westen, die am bisherigen Kurs in der Deutschland- und Russlandpolitik festhalten wollten, war der 17. Juni geradezu ein Geschenk des Himmels, ein Beweis für die sowjetische Unterdrückungspolitik. Für die Westmächte kam er völlig überraschend. Für Bundeskanzler Konrad Adenauer war er ein "eindeutiges Zeichen für die Unruhe im sowjetischen Machtbereich, zeigt die Schwäche des sowjetischen Systems und wirkt reinigend hinsichtlich so mancher Illusionen", wie sein enger Vertrauter Herbert Blankenhorn notierte.

Der Aufstand wurde gleichzeitig zum Lackmustest für die neue amerikanische Politik unter Präsident Eisenhower, die vom Kommunismus unterdrückten Völker zu befreien. Erst seit einiger Zeit sind die Akten frei und wissen wir Genaueres über die damaligen internen Überlegungen in Washington: Es ging um Waffenlieferungen an die Aufständischen! Trotz aller zuvor laut verkündeter Befreiungspolitik der Amerikaner hieß deren erste Reaktion allerdings zunächst: keine Verschärfung der Situation!

Das Buch zum Thema, erschienen in der Olzog Edition im Lau Verlag, Reinbek 2018, 488 Seiten, 29,95 Euro.

Im RIAS, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin, durfte der Aufruf des Streikkomitees nicht gesendet werden. Egon Bahr, damals Chefredakteur des RIAS (und später Chefarchitekt der Ostpolitik von Willy Brandt), erinnerte sich 2008: "Das war das einzige Mal, dass ich von meinem amerikanischen Direktor eine Weisung bekam, nämlich, das nicht zu senden. Er kam mit bebendem Bärtchen in mein Büro und lehnte jede Diskussion ab, weil er sagte: ‚Sie können nicht garantieren, dass, wenn die Sowjets eingreifen, sie dann nicht gleich nach West-Berlin weitermarschieren. Wollen Sie einen Dritten Weltkrieg auslösen?‘ Er berief sich dann auch noch auf eine Weisung des amerikanischen Hochkommissars."

Dazu passt, dass die Amerikaner während des Aufstandes den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, am Weiterflug mit einer PANAM-Maschine von Nürnberg nach Berlin hinderten; eine Ansprache, in der er in russischer Sprache dazu auffordern wollte, nicht auf unbewaffnete deutsche Arbeiter zu schießen, wurde nicht gesendet. Auch wenn der RIAS nicht direkt zum Generalstreik aufrufen durfte, spielte der Sender dennoch eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung der Unruhen von Ost-Berlin auf die übrige DDR, wie es im Oktober in einer US-Analyse hieß.

Falsche Einschätzung

Am 17. Juni sah das State Department im Aufstand zwar eine "ausgezeichnete Propagandamöglichkeit"; einen konkreten Plan, wie man reagieren sollte, gab es aber hier ebenso wenig wie bei der Hohen Kommission (HICOG) in Bonn. Genauso wie die CIA hatte HICOG die Stabilität der DDR überschätzt. Noch am 2. Juni hatte man nach Washington gemeldet: "Es gibt gegenwärtig keinen Grund zu glauben, dass die Situation katastrophale Ausmaße annimmt oder dass die Regierung der DDR nicht in der Lage ist, eine Katastrophe zu verhindern."

Man hatte sich getäuscht und war auf das, was kam, völlig unvorbereitet (eine Situation, die an 1989 erinnert). Als der Stationschef der CIA in Berlin, Henry
Hecksher, in Washington um Erlaubnis bat, angesichts der überwältigenden sowjetischen Feuerkraft die Aufständischen mit Waffen zu unterstützen, erhielt er die klare Anweisung, Sympathie und Asyl ja, aber keine Waffen ("sympathy and asylum, but no arms").

Warum das so war, zeigt die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates in Washington am 18. Juni. CIA-Direktor Allen Dulles stellte zunächst klar, dass die USA "absolut nichts" mit der Auslösung der Unruhen zu tun hatten; sie seien Ausdruck einer "grenzenlosen Unzufriedenheit" hinter dem Eisernen Vorhang und stellten die USA vor ein sehr schwer zu lösendes Problem. Präsident Eisenhowers enger Vertrauter, der "Falke" William H. Jackson, brachte das Pro-blem auf den Punkt und stellte die entscheidende Frage: "Wie weit sind die USA bereit zu gehen, wenn es wirklich ernst wird?"

Die Sklaven der Sowjetunion hätten erstmals seit ihrer Versklavung das Gefühl, etwas tun zu können. Möglicherweise würden die Satellitenstaaten dem Beispiel Titos (Jugoslawiens Staatschef, der sich 1948 von Moskau losgesagt hatte) folgen, möglicherweise sei der Aufstand das Totengeläut für die Auflösung des Sowjetreichs.

William H. Jackson: "Schauen wir untätig zu oder helfen wir bei der Auflösung nach? Meine erste Frage lautet: Sollen wir die Ost-Berliner mit Waffen versorgen?"

Eisenhower: "Wenn das nur zum Abschlachten dieser Menschen führt, dann nicht. Wenn es eine echte Erfolgschance gibt, dann sollten wir es sehr wohl tun."

Das Problem war nur, diese Erfolgschance richtig einzuschätzen. In jedem Fall wollte Eisenhower nicht "unsere Freunde töten". Die Aufstände müssten sich auf China ausdehnen; Aufstände in Europa könnten die Sowjets leicht niederschlagen, mit Aufständen in China und Europa gleichzeitig fertig zu werden, sei für sie aber schon schwieriger. An diesem Punkt intervenierte Allen Dulles. Für ihn war es dumm und gefährlich ("foolish and dangerous"), Aufständische mit Waffen in Gebieten zu versorgen, wo sowjetische Truppen stünden. Es gab keine Waffen, sondern etwas anderes: Lebensmittelpakete.

"Eisenhower-Pakete"

Auch nachdem sowjetische Panzer die Kontrolle wiederhergestellt hatten, lief die Streikwelle teilweise bis weit in den Sommer hinein weiter. Noch vom 15. bis 17. Juli legte etwa im Buna-Werk ein Drittel der Belegschaft, fast 6000 Menschen, die Arbeit nieder. Ähnlich im Carl Zeiss-Werk in Jena. Dort lautete eine Forderung: "Freie, geheime Wahlen für die Einheit Deutschlands." Die Amerikaner wollten diese Stimmung für ihre Politik nutzen. Am 24. Juni hieß es in einem geheimen Memorandum, der Aufstand biete die bisher beste Gelegenheit für eine wirksame Politik des roll back - ohne Waffen.

Auf zwei Ebenen sollte demnach reagiert werden. Zum einen sollten die USA zum frühest möglichen Zeitpunkt noch einmal klarmachen, dass man für die Wiedervereinigung auf der Basis freier Wahlen war. Zum andern sollte die Politik der psychologischen Kriegsführung mit offenen und verdeckten Operationen fortgesetzt werden. Es wurde u.a. vorgeschlagen, dass Adenauer die Errichtung eines Bundestagsgebäudes auf dem Gelände des Reichstages ankündigen sollte, mit einer "Halle der Helden". Der erste "Held" sollte der West-Berliner Willi Göttling sein, der von den Sowjets erschossen worden war. Ein anderer Vorschlag sah die Bildung eines von der CIA finanzierten "Nationalkomitees zur Erinnerung an die Märtyrer der Freiheit" vor, das an die "patriotischen Unruhen in Ostdeutschland" erinnern sollte. Ein nächster einen "Tag der Trauer für die Märtyrer Ost-Berlins" oder einen "Go home Ivan Day".

Diese Vorschläge klangen allesamt nicht sehr überzeugend - und wurden dann auch nicht realisiert. Immerhin wurden aber über den RIAS DDR-Volkspolizisten (Vopos) aufgefordert, zu desertieren, etwa mit dem Slogan: "Kommt rüber auf die Seite der Freiheit. Ihr seid willkommen hier."

Auf den ersten Blick viel nachhaltiger und erfolgreicher wurde aber etwas Anderes: ein groß angelegtes Lebensmittel-Hilfsprogramm, die sogenannten "Eisenhower-Pakete". Am Ende organisierten die Amerikaner für 15 Millionen Dollar (nach heutigem Wert rund 150 Millionen) 5,5 Millionen Lebensmittelpakete für Ostberliner und DDR-Bewohner im Wert von 5 DM pro Person (1 kg Mehl, 4 Dosen Kondensmilch, ein Pfund Hülsenfrüchte, 800 g Schmalz), die sie in West-Berlin an sieben Ausgabestellen abholen konnten.

Lebensmittel statt Waffen! Die Aktion war das Ergebnis intensiver Beratungen der CIA. Man war sich dort darüber im Klaren, dass das Ausbleiben einer Aktion des Westens für die USA "nicht nur einen erheblichen Prestigeverlust der freien Welt, sondern ein politisches Versagen bedeuten würde", wie der deutsche Generalkonsul Heinz Krekeler aus Washington meldete. Die Aktion war Tagesgespräch in der Zone und nahm teilweise dramatische Ausmaße an. Der Verkauf von Fahrkarten nach Berlin wuchs teilweise um das Siebenfache an, die Züge der Reichsbahn nach Berlin waren teilweise um 200 Prozent überbesetzt. In Magdeburg stürmten Menschen die Abteile und zertrümmerten dabei die Fensterscheiben, um dadurch in die Züge zu gelangen.

Die Pakete demonstrierten westliche Solidarität mit der ostdeutschen Bevölkerung. "Sie wissen nun", so ein amerikanischer Beobachter, "dass der Westen existiert, an sie denkt und hofft, dass sie eines Tages wieder frei sein werden. Dieses wichtige Projekt hat unsere Stellung im Kalten Krieg jetzt schon verbessert." Für Ernst Reuter war die Aktion "wie ein Artillerieangriff".

Als Sowjets und SED begriffen, worum es bei den "Ami-Paketen" im Kern ging, griffen sie ein: der Fahrkartenverkauf für Fahrten nach Berlin wurde gesperrt, der Personenverkehr auf Lastwagen und Autobussen nach Berlin unterbunden.

Langzeitwirkung

Wie tief der Schock der SED-Führung in den Knochen steckte und wie lange das Trauma wirkte, lässt sich an einigen dokumentierten Zitaten ablesen. Während der Unruhen in Polen 1980 forderte SED-Generalsekretar Erich Honecker im Gespräch mit dem polnischen Botschafter: "Die Arbeiter- und Bauernmacht muss verteidigt werden. Das sind unsere Erfahrungen aus dem Jahr 1953." Als Stasiminister Erich Mielke in einer Dienstbesprechung am 31. August 1989 fragte: "Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?", beruhigte ihn ein Oberst: "Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da." Er sollte sich bekanntlich irren.

Der Aufstand des 17. Juni 1953 war der Anfang vom langen Ende der DDR. Die Probleme, die zum 17. Juni geführt hatten, wurden auch in den folgenden Jahren nicht wirklich gelöst; da half keine Mauer und auch keine Stasi. Der einzige Garant für den Machterhalt war die Sowjetunion, die bereit war, militärische Gewalt einzusetzen - wie später auch in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei.

Die Sowjetunion unter Gorbatschow war dazu 1989 nicht mehr bereit. So holte das Schlüsselereignis deutsch-deutscher Geschichte des Jahres 1953 die SED-Genossen im Herbst 1989 ein. Vieles kam am Ende zusammen und führte zu dem, was wir "Wende" nennen. Als die DDR-Bürger im Herbst 1989 wieder auf die Straße gingen und diesmal die sowjetischen Panzer in den Kasernen blieben, fiel die Mauer. Das war zugleich das Ende der DDR. Die meisten ihrer Bürger wollten dann nur noch weg.

O. Univ.-Prof. Rolf Steininger war von 1984 bis zu seiner Emeritierung 2010 Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.