Gehörlose aus der Ukraine erlernen beim "Equalizent" die Österreichische Gebärdensprache - um in Wien, vielleicht sogar am Arbeitsmarkt, Fuß zu fassen.
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Die Verkäuferin, die Floristin, die Optikerin, der Autowäscher, der Mechaniker, der Maler und Anstreicher, der Lackierer - was die Gruppe an Schülerinnen und Schülern an diesem Tag im "Equalizent" lernt, sind weniger klischeetypische Berufe für Männer und Frauen als die Artikel zu den Berufsbezeichnungen in Österreichischer Gebärdensprache, kurz ÖGS, und deutscher Schriftsprache.
Bis auf Oleh Koshevy, der als Maler, Anstreicher und Lackierer gearbeitet hat - die Gebärde für diesen Beruf ähnelt einem Auf- und Abstreichen mit einem Pinsel -, haben alle im Sprachkurs andere Berufe als die per Foto am tafelgroßen Bildschirm präsentierten: Zwei Frauen waren beispielsweise Näherinnen, einer war IT-Fachmann, es gibt einen Tischler, eine Putzfrau, einen Fußballspieler, eine Pädagogin, die früher gehörlose Kinder unterrichtete. Früher, das war in der Ukraine - vor der Flucht, die meistens zufällig nach Österreich, konkret in diesen vom Österreichischen Integrationsfonds finanzierten Sprachkurs in Wien Leopoldstadt.
Das "Equalizent" ist ein Schulungs- und Beratungsinstitut für gerhörlose und schwerhörende Personen. Die gehörlosen Flüchtlinge aus der Ukraine haben hier das gemeinsame Ziel, die sprachliche Basis für eine Arbeitsaufnahme zu erwerben. Aber nicht nur das: Oleh Koshevy, der wie Anastasija Lytvynova der "Wiener Zeitung" für ein etwas ungewöhnliches Gespräch zur Verfügung steht, möchte auch "die Sorgen für ein paar Stunden vergessen". Für Lytvynova ist der Kurs auch eine Möglichkeit, andere "Gehörlose aus der Ukraine zu treffen".
"Ich will eine Arbeitfinden, egal was"
Die Hausaufgabe - "Konjugiere die folgenden Verben: machen, kochen, schlafen, arbeiten und so weiter" - sei schriftlich zu erledigen und in Gebärden zu üben. "Bitte bis zur nächsten Woche alleine probieren, nicht die anderen anrufen", erklärt die Lehrerin Amarjargal Damba am Ende des Kurses. Nicht nur für die Erklärung dieser Hausaufgabe, sondern auch für das anschließende Gespräch zwischen der "Wiener Zeitung" und erst mit Koshevy, dann mit Lytvynova, nimmt sie sich extra Zeit. Damba wurde in der Mongolei geboren, lebt seit 1995 in Österreich. Sie beherrscht die mongolische, die russische und die österreichische Gebärdensprache genauso wie die deutsche Lautsprache. Sie sagt, sie liebe Gebärdensprache, "da kommt mein ganzer Körper zum Einsatz". Sie erklärt Koshevy die Fragen in russischer Gebärdensprache, sie erklärt seine Antworten in deutscher Lautsprache. Es erfordert Aufmerksamkeit aller Beteiligten, damit es nicht zu Missverständnissen kommt oder solche gleich wieder aufgeklärt werden können.
Koshevy wurde vor 44 Jahren in der UdSSR geboren, lebte mit seiner Frau und zwei Kindern, seiner 24-jährigen Tochter und seinem 16-jährigen Sohn, in Dnipro. Es ist nach Kiew, Charkiw und Odessa die viertgrößte Stadt der Ukraine im Oblast Dnipropetrowsk, lässt sich später nachlesen. Er erlernte in einer eigenen Schule schon als Kind russische Gebärdensprache, sprach zu Hause auch ukrainische, sie seien sehr ähnlich, ähnlicher als die Lautsprachen, erklärt er.
Bereits seine Eltern waren gehörlos, seine eigene Familie, mit der er gemeinsam hier im März schon nach Wien kam, ist es ebenfalls. Seine Tochter arbeite bereits in einem Fast-Food-Restaurant, sagt er und nickt sichtlich stolz und mit einem Lächeln auf den Lippen. Koshevys Frau sei mit im Kurs: "Gemeinsam in Sicherheit zu sein" war sein Ziel am Beginn, nicht unbedingt in Österreich. Der Vorteil in Wien sei aber, es seien nicht so viele Leute wie in Deutschland, deshalb seien sie geblieben. Sein Ziel heute: "Ich will eine Arbeit finden, egal was", verdeutlicht er - auch, um für die Wohnung selbst Miete bezahlen zu können, ergänzt er später. "Ich weiß, es wird schwierig, noch kann ich Deutsch nicht so gut. Ich kann auch Hilfsarbeiten machen."
Koshevys Erzählstil wirkt kurz und bündig, erst als er von der Flucht erzählt wird aus den harmonischen Gebärden ein rasches, hektisch wirkendes Aufeinander. Er erzählt von Vibrationsalarmen bei drohenden Bombenangriffen am Handy, einer Situation, als - ohne solchem Zeichen im Vorfeld - "plötzlich alle weg waren, und wir im Schock auch schnell aufgebrochen sind". Die Familie konnte den Fliegeralarm nicht hören.
"An erster Stellesteht meine Tochter"
Ganz anders erzählt Anastasija Lytvynova, sie überlege, drücke sich in Internationaler Gebärdensprache sehr gewählt aus, sagt Lehrerin Damba anerkennend. Sie kannte Wien bereits ein bisschen von einer Exkursion als Schwimmerin vor zwei Jahren "Es ist wirklich ein schönes Land", versichert sie auch heute.
Die 33-Jährige flüchtete mit ihrer sieben Jahre alten Tochter, diese ist hörend, besucht bereits die Schule in Wien. Lytvynova beherrscht neben der internationalen auch die russische und die ukrainische Gebärdensprache. ÖGS zu erlernen, die sich übrigens auch von der in Deutschland unterscheidet, sei deshalb einfacher für sie, erklärt sie. "Das Visuelle ist einfach", es helfe, dass sie als Sportlerin früher öfter im Ausland gewesen sei. Wobei sie auch sagt, "die Grammatik ist ganz schwierig, die ist völlig anders. Aber es geht", gibt sich die Sportlerin zuversichtlich. Sie habe in der Ukraine auch ein sporttherapeutisches Studium abgeschlossen. Wenn möglich, würde sie gerne gehörlosen Kindern hier in Wien Schwimmunterricht geben, wenn nicht, "dann ist das auch egal", sagt die 33-Jährige.
Anastasija Lytvynova konnte gemeinsam mit ihrer Tochter mit im Auto eines Freundes und mit dessen Sohn flüchten. Davor waren sie eine Woche in einem Bunker festgesessen, hatten fünf Tage nichts zu essen gehabt, kein WC, keine Dusche, erzählt sie. Lytvynova gebärdet das alles ruhig, die Worte der Lehrerin klingen weit dramatischer und bedrohlicher, als es die davor zu sehenden Gebärden vermuten lassen.
Ihre Eltern seien mittlerweile auch in Österreich. Der Opa nicht, ihre Augenwinkel füllen sich mit Tränen. "Er war im Krankenhaus, bevor der Krieg ausgebrochen ist. Es war unmöglich, ihn und die anderen mit Medikamenten zu versorgen", erklärt sie. Er sei gestorben. Rasch kehrt sie in ihrer Erzählung zurück nach Wien. Eine Rückkehr nach Charkiw sei unrealistisch. Lytvynova will bleiben; sie will, dass ihrer Tochter weiter in Wien zur Schule gehen kann: "An erster Stelle steht meine Tochter", betont die 33-Jährige deutlich. "Sie hat neue Freunde hier gefunden, ich will sie keinesfalls aus der Schule rausnehmen, um sie in eine ungewisse Zukunft zu bringen."