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Deutschland gilt in Südeuropa als Insel der Seligen. Doch die Probleme nehmen zu.
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Berlin. In der ersten Nacht brach der Server zusammen: 2000 Portugiesen hatten sich via E-Mail bei der Arbeitsagentur in Schwäbisch-Hall gemeldet, einer Kleinstadt in Baden-Württemberg mit 35.000 Einwohnern, bezaubernden Fachwerkhäusern, dutzenden gut aufgestellten Mittelstandsunternehmen und 2500 offenen Stellen. Dass die Portugiesen gerade auf Schwäbisch-Hall gekommen sind, liegt an einer Wirtschaftsjournalistin, die ihren arbeitslosen Landsleuten das süddeutsche Idyll schmackhaft machen wollte. Auch deshalb war sie schließlich gemeinsam mit einigen südeuropäischen Kollegen von der Stadtverwaltung nach Schwäbisch-Hall eingeladen worden. Und so stellte sie ihren Artikel auch auf Facebook. Das war im Winter. Seither sind 15.000 Bewerbungen bei der regionalen Arbeitsagentur eingegangen.
Nicht nur Schwäbisch-Hall - verglichen mit Spanien, Griechenland oder Portugal ist ganz Deutschland auf den ersten Blick eine Insel der Seligen. Massenproteste finden hier keine statt und die Statistiken sehen gut aus, auch jene, die die Bundesagentur für Arbeit am Donnerstag präsentierte: Im Vergleich zum Vorjahr gab es im September 7000 Arbeitslose weniger, die Zahl der Deutschen ohne Job liegt nun bei 2,79 Millionen - das entspricht einer Quote von 6,5 Prozent. Und die Nachfrage nach Arbeitskräften ist in vielen Sparten nach wie vor hoch. In Südeuropa wirbt die Bildungsministerin deshalb um Fachkräfte.
Dennoch: Gänzlich rosig ist die Lage auch in Deutschland nicht. Die schwächere wirtschaftliche Entwicklung wirkt sich sukzessive auf den Arbeitsmarkt aus. "Ich sehe auch, dass es für Arbeitslose schwieriger geworden ist, eine Beschäftigung zu finden", sagte der Chef der Arbeitsagentur, Frank-Jürgen Weise. "Bisher war der Arbeitsmarkt sehr aufnahmefähig. Das ändert sich jetzt."
Wie leicht oder schwer man einen Job findet, hängt aber nach wie vor stark davon ab, in welchem Bundesland und in welcher Region man sich befindet. Deutschlandweit gilt aber, dass die Kluft zwischen Arm und Reich rasant wächst - und laut der Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) noch dazu viel stärker als in den meisten anderen Industrienationen. Die Lohnschere zwischen den Spitzeneinkommen und den untersten zehn Prozent der Vollzeitarbeitenden nimmt zu. Die Zahl an Teilzeitbeschäftigungen und befristeten Arbeitsverhältnissen steigt.
Gewöhnung an Hartz IV
Auch Peter Ullrich, Soziologe am Wissenschaftszentrum Berlin, mahnt, die Lage differenzierter zu sehen. Auch in Deutschland sei die Verunsicherung groß, prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse nähmen zu. Doch anders als vor einigen Jahren, als Woche für Woche Tausende gegen "Sozialabbau" und das Langzeitarbeitslosengeld "Hartz IV" demonstrierten, geht man heute weniger als anderswo auf die Straße - laut Ullrich hat sich beim Thema "Hartz IV" ein "gewisser Gewöhnungseffekt" eingestellt. Dazu kommt die bekannte Geschichte: Diejenigen, die ganz unten sind, protestieren am wenigsten. In Südeuropa treffen die Sparmaßnahmen mit einem Schlag sehr viele - das ist in Deutschland zurzeit nicht der Fall. Wer hier einen Job hat, freut sich. Wer keinen hat, hofft auf einen oder hat vielleicht schon resigniert. Zudem ist die Protestkultur in Deutschland, ähnlich wie in Österreich, auch historisch bedingt schwach ausgeprägt: "Die Demokratisierung erfolgte nach und nach von oben, nicht aufgrund einer bürgerlichen Revolution", sagt Ullrich. "Realexistierende Interessensgegensätze werden überspielt, alle behaupten, ,die Mitte‘ zu vertreten."
In Schwäbisch-Hall sucht man derweil weiter nach passendenFachkräften. Von den 15.000 Bewerbungen leitete die regionale Arbeitsagentur 1000 an die zentrale Arbeitsvermittlung in Bonn weiter. 30 Portugiesen, die erst gar keine Zeit verschwenden wollten, packten ihre Koffer und kamen ohne Ankündigung nach Schwäbisch-Hall. Sie arbeiten heute als Maler, Tischler, im Gastgewerbe und als Hilfsarbeiter.