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Sorgenkind mit Kultur

Von Martin Zinggl

Reflexionen

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Beschauliche Gassen prägen das historische Zentrum.
© Foto: Martin Zinggl

"Aqui nasceu Portugal" - "Hier wurde Portugal geboren", erinnert ein weißer Schriftzug entlang der alten Stadtmauer von Guimarães an die historische Geburtsstätte des Landes. João Manuel zeigt mit dem Finger auf die großen Buchstaben und lächelt königlich. "Dahinter liegt die Wiege der Nation", sagt der 69-jährige, leicht ergraute Portugiese. Zumindest will es so die geschichtliche Überlieferung. Als gebürtiger Vimaranense, wie die Einwohner von Guimarães genannt werden, ist João Manuel stolz darauf, aus der ersten Königsstadt Portugals zu kommen.

Anfang des 8. Jahrhunderts war die Iberische Halbinsel beinahe vollständig unter maurische Herrschaft gefallen. Der (vermutlich) in Guimarães geborene Alfons, Graf von Portucale, eroberte 1139/40 große Teile des heutigen portugiesischen Staatsgebietes von den Mauren zurück. Nach der Befreiung ernannte sich der junge Graf selbst zu König Alfons I. und Guimarães zur ersten Hauptstadt seines neuen Reiches. Seitdem wird die Stadt im Braga Distrikt mit nationaler Identität assoziiert. Rund 900 Jahre später hat Guimarães wieder einen Grund zum Feiern. Neben dem slowenischen Maribor (Marburg) darf sich die junge Universitätsstadt "Kulturhauptstadt Europas" nennen.

Bewohnerbeteiligung

Als Teil von "Eu sou Guimarães" ("Ich bin Guimarães") hat João Manuel gelernt, die Besucher in "seiner" Stadt willkommen zu heißen. Seit einigen Monaten finden regelmäßige Versammlungen statt, bei denen die Organisatoren von Guimarães 2012 versuchen, die Bewohner in das Kulturjahr zu involvieren. Vorwiegend werden dabei im Tourismus arbeitende Personen angesprochen, aber auch andere Interessierte sind willkommen. João Manuel führt seitdem Touristen unentgeltlich durch die Stadt, erklärt ihnen Geschichte und gibt Hintergrundinformationen - alles im Sinne einer europäischen Kulturhauptstadt.

Hinter der Stadtmauer von Guimarães eröffnet sich eine mittelalterlich anmutende Filmkulisse wie aus einem Geschichtsbuch. Über enge Gässchen spannen sich kunstvolle Steinbögen. Schattige Kreuzgänge verstecken sich hinter unscheinbaren, zierlichen Holztüren. Alte Herrenhäuser mit verzierten Kachelfassaden umrunden mit Pflasterstein ausgelegte Plätze. Bewohner unterhalten sich durch holzgeschnitzte Balkonfenster mit ihren Nachbarn oder rauchen genüsslich Zigaretten. Dabei beobachten sie gelangweilt das rege Treiben auf den Straßen, in denen Verkäufer vor ihren Läden Textilerzeugnisse und Schuhe anbieten. Zwei Tauben turteln auf einem der vielen Mansardendächer zu portugiesischer Fado-Musik. In den Gastgärten der Restaurants servieren die verschlafenen Kellner Portwein, Bohneneintopf und bacalhau - traditionellen Stockfisch, für den es in Portugal 1001 verschiedene Rezepte geben soll. Bisher frequentieren hauptsächlich portugiesische Touristen die verlockend aussehenden Gastgärten. Im nächsten Jahr sollen auch ausländische Touristen anbeißen.

"Sieh nur!", sagt João Manuel und zeigt auf eine offene Balkontür im ersten Stock. Zwischen gusseisernen Gitterstangen und dicken Blumentöpfen lächelt ein Abbild der Mona Lisa von der Wand herunter. João Manuel lächelt zurück. Er hat den Charme der verträumten Kleinstadt längst erkannt. Seit den 1980er Jahren arbeitet die Gemeinde an der Restaurierung des historischen Zentrums - allen voran Fernando Távora und Alexandra Gesta, zwei Architekten im Dienste der Stadtverwaltung.

Guimarães erhielt etliche nationale und europäische Preise für die exemplarische Entwicklung der nordportugiesischen Architektur. 2001 ernannte die UNESCO Guimarães zum Weltkulturerbe. Heute beobachten ein paar installierte Überwachungskameras die Bewohner Schritt für Schritt. Als erste portugiesische Stadt beantragte Guimarães 1990 die Genehmigung für eine Videoüberwachung, um seine steinerne Innenstadt vor Vandalen und Randalierern zu beschützen.

Üppige, grüne Hügel des Granitberges Serra da Penha umgeben den gut konservierten Stadtkern von Guimarães. Der Duft von Kamillenbäumen strömt durch die Luft. Eine Seilbahn führt zur Kirche Nossa Senhora am höchsten Punkt des Penha-Berges. Über in Stein geschlagene Terrassen und endlose Weingärten in allen Grüntönen führt der Weg durchs Hinterland nach Porto, das keine fünfzig Kilometer entfernt liegt.

Nach Lissabon 1994 und Porto 2001 ist Guimarães bereits die dritte portugiesische Stadt, die zur europäischen Kulturhauptstadt ernannt wurde. "Das war nur eine Frage der Zeit", sagt João Manuel. "Schon vor dem Projekt Europäische Kulturhauptstadt galt Guimarães als Zentrum der portugiesischen Kultur." Der pensionierte Handwerker glättet seinen perfekt gestutzten, buschigen Schnauzer. Das Kreuz an seinem goldenen Halskettchen glitzert in der Sonne.

Chancen für die Stadt

Guimarães ist eine Kleinstadt mit rund 60.000 Einwohnern, viele davon arbeitslos. Da jeder zweite Bewohner unter dreißig Jahre alt ist, zählt die Gemeinde zu den jüngsten Europas. Diese historisch bedeutende Stadt der Welt schmackhafter zu machen wird eine Herausforderung, aber auch eine Chance für Bewohner wie João Manuel. "Während unsere Stadt vor sich hinschlummert und darauf wartet, entdeckt zu werden, fahren Touristen lieber nach Porto", sagt der Vimaranense. "Hierher verirrt sich fast niemand." Das soll sich nun ändern.

"Unser Stadtrat rechnet 2012 mit eineinhalb Millionen Besuchern", fügt der Pensionist hinzu. Für diese Phantasiezahl hat der Stadtrat auch tief in die Taschen gegriffen und dem bereits von Inflation geschädigten Portugal damit keine Freude bereitet. 25 Millionen Euro - im europäischen Vergleich mit anderen Kulturhauptstädten ein durchaus mittelmäßiges Budget - wurden in 500 "kulturelle Aktivitäten" investiert. Darüber sind nicht alle Portugiesen erfreut. "Zumindest haben wir dann wieder etwas, womit unsere Musiker ihre Saudade füttern können", meint João Manuel skeptisch. Er lächelt verschmitzt: "Ja, wir bleiben ein Sorgenkind Europas, aber wir haben Kultur."

Die idyllische Kleinstadt soll 2012 zum Touristenmagnet werden.
© Foto: Martin Zinggl

Über die hohen Staatsschulden, das niedrige Bildungsniveau und eine Arbeitslosigkeit von rund 13 Prozent will der Portugiese nicht näher nachdenken. Guimarães bezieht rund 70 Prozent seiner Einkünfte durch Textil-Produktion. Die Organisatoren von Guimarães 2012 sehen die "zukunftsorientierten Kulturinvestitionen" als Möglichkeit, der Stadt und dem Land eine Chance auf "finanzielle und soziale Genesung" zu geben.

Die breite Palette des kulturellen Angebots für 2012 reicht von Musik, Architektur und Kino bis hin zu Ausstellungen, Konferenzen und Workshops inner- und außerhalb Guimarães. 750 Freiwillige werden dabei mithelfen, ein unvergessliches Jahr zu gestalten. Neben 5000 portugiesischen sollen auch 1000 internationale Künstler an dem Jahresevent teilnehmen. Die Besucher erwartet ein vielfältiges Programm. "Mit prominenter Besetzung", fügt João Manuel hinzu. So werden beispielsweise der englische Theaterregisseur Peter Brook, der portugiesische Stararchitekt Álvaro Siza Vieira oder der französische Filmemacher Jean-Luc Godard nach Guimarães kommen. Auch der peruanische Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa hat sich für 2012 angekündigt - einer der Höhepunkte des Kulturjahres. Daneben gibt es die alljährlichen Theateraufführungen, Lyriklesungen, Raum- und Lichtinstallationen.

Guimarães versteht sich als kreativer Umschlagplatz, als "Stadt der Ideen". Infolgedessen entstanden für das Kulturjahr die vier Themenfelder "Denken", "Stadt", "Community" und "Künste". Auf das Schlagwort "Networking" haben die Organisatoren wohl vergessen, wenngleich es an oberster Stelle ihrer Planung zu finden ist. Im Konzept von Guimarães 2012 stehen nicht die Festivitäten, sondern die Menschen im Vordergrund. So wird es den Besuchern möglich sein, mit den verschiedenen Künstlern persönlich zu interagieren. Um den Marktplatz herum sollen die Kreativen in Künstlerresidenzen "angesiedelt" werden, die später die Kenntnisse, Erfahrungen, Gemeinsamkeiten und Kontakte weiterleben und entwickeln sollen. Wenn das Kulturjahr vorbei ist und Guimarães den Titel an Marseille und Koice (Kaschau) weitergibt, erwartet sich die Kleinstadt eine verbesserte Infrastruktur für Arbeit und Leben.

João Manuel steigt die hohen Stufen der mittelalterlichen Burgmauer empor. Geländer, an dem er sich anhalten könnte, gibt es keines. Dafür warnt ein Schild vor der Rutschgefahr. "Das müssen wir auf die Reihe kriegen, bevor es losgeht", sagt der Pensionist "sonst fällt uns da noch irgendwann einmal jemand hinunter." Er grinst verlegen. Oben angekommen, stützt sich João Manuel auf die mannshohen Zinnen und blickt verträumt auf "seine" Stadt.

Nationalmonument

Die romanische Burg Castelo de Vimaranes stammt aus dem 10. Jahrhundert und gilt als Wahrzeichen der Stadt. Ihr verdanken die Bewohner von Guimarães auch den Namen Vimaranense. Nachdem Diktator António Salazar 1932 Portugals Regierung übernahm, ließ er die Festungsanlage komplett erneuern. Nur auf die Geländer hatte er wohl vergessen. Heute zählt das Castelo zu den besterhaltenen romanischen Burgen Portugals und Guimarães gilt als Wallfahrtsort für Portugiesen.

Eine Gedenktafel zeigt Alfons I., wie er symbolisch als Zeichen des Unabhängigkeitssieges einen Lorbeerkranz in die Höhe hält. Eine lebensgroße Statue des Nationalhelden bewacht die Burg. Wenig verwunderlich hat sich aus dem Helm des Nationalhelden auch das herzförmige Logo des Kulturjahres entwickelt.

Zum Abschied gibt João Manuel noch einen Tipp. Seit über hundert Jahren findet am ersten Augustwochenende in Guimarães das Gualterianas statt. "Im kommenden Jahr (von 5. bis 8. August 2012) wird dieses Volksfest etwas Einzigartiges", sagt der Pensionist. "Mit Feuerwerk, Blumenschlacht, Stierkampf, Umzug, Live-Musik und portugiesischen Köstlichkeiten."

Martin Zinggl, geboren 1983, lebt als Autor, Journalist und Dokumentarfilmer in Wien.

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