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"Sowas wie mich gibt’s nicht mehr"

Von Klaus Stimeder

Reflexionen

Der Autor hat über Jahrzehnte nichts an Radikalität und Wortgewalt eingebüßt.


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New York. "Ich kann nicht, es geht nicht. Einen ganzen Tag lang habe ich verschwendet, bin in diesem Dreck herumgewatet, in dieser Kloake, in die jeder Vollidiot seinen Mist reinstellen kann. Nein, danke. Ohne mich." Gary Indiana ist angefressen, richtig angefressen, auf die Welt und auf den Tod, aber vor allem auf das Internet. Es ist unerträglich heiß in New York City und es ist noch keine drei Tage her, dass eines der großen Kunstmagazine der Stadt ihn gebeten hat, einen Nachruf auf den langjährigen intellektuellen Löwen der amerikanischen Linken, Gore Vidal, zu schreiben. Nachdem Indiana alle mal mehr, mal weniger lesenswerten Nekrologien der großen Blätter und Websites gelesen hatte, beschloss er, "es bleiben zu lassen. Nachdem ich soviel Blödsinn über einen solchen Mann gelesen hatte, konnte und wollte ich einfach nicht mehr." Gary Indiana ist ein lebenslanger Fan Vidals gewesen und auch posthum lässt er über ihn nichts kommen. Als Kommentator, der bis zuletzt nicht aufhörte, die (vornehmlich rechten) politischen Eliten seines Landes jene "Diebe" und "Mörder" zu heißen, die sie in der Regel waren und sind, sei Vidal "unentbehrlich gewesen. Schau dir doch an, welche mittelmäßigen Arschlöcher heute hier wichtig sind, in der Politik und in der Literatur. Es ist kaum auszuhalten..." Spricht’s, noch eine Camel und noch einen doppelten Grappa, das kühlt Körper und Geist. Und Prost.

Amerikanische Abgründe

Klug und unbarmherzig: Gary Indiana.
© Johnny Perez

Vor rund einem halben Jahr nannte der kanadische Starfotograf Bruce LaBruce seinen alten Bekannten Gary Indiana im globalen Klemmvoyeuristen-Organ "Vice" den "Angehörigen einer längst ausgestorbenen Spezies. Die Welt, für die er steht, gibt es nicht mehr. Für mich ist er eine Burroughs’sche Figur. Er lebt das Leben, über das er schreibt." Was die Themen- und Charakterauswahl der Mehrheit seiner Werke angeht, mag dieses Urteil zweifellos zutreffen. Den größten kommerziellen Erfolg des Schriftstellers Gary Indiana stellen bis heute die unter dem Titel "Südkalifornien-Trilogie" zusammengefassten, zwischen 1997 und 2002 veröffentlichten Bücher dar, allesamt Erforschungen der Abgründe amerikanischer Wirklichkeiten am Ende des 20. Jahrhunderts. Alle drei widmen sich spektakulären Kriminalfällen: In "Resentment" verarbeitet Indiana in Romanform das Drama der Gebrüder Menendez, zwei in extrem wohlhabendem Haus aufgewachsenen Männern, die im Alter von 18 beziehungsweise 20 Jahren ihre Eltern erschossen. In "Three Month Fever" dokumentiert er die mörderische Reise des so statussüchtigen wie homosexuellen Psychopathen Andrew Cunanan quer durch die USA, im Zuge derer dieser 1997 fünf Menschen umbrachte, als letzten davon den Modezampano Gianni Versace (bevor er sich, aufgespürt von der Polizei, selber die Kugel gab). In "Depraved Indifference" erzählt Indiana eine der denkwürdigsten Muttersöhnchen-Storys der US-Kriminalgeschichte nach: die von Sante und ihrem Sohn Kenneth Kimes, die sich über Jahrzehnte mittels Lug, Trug und am Ende Mord ihren eigenen amerikanischen Traum erfüllen wollten.

Doch nichts mit Revolution

So weit, so Capote-isch. "Ganz ehrlich, ich kann dir nicht sagen, wie ich mir meine Themen aussuche. Meistens ist es so, dass sie mir einfach passieren. Dann recherchiere ich nach und am Ende kommt dabei etwa heraus." Was sein restliches Oeuvre angeht, das sich in nunmehr rund vier Jahrzehnten aufgestaut hat, "schaut der Ablauf grundsätzlich kaum anders aus". Nur, dass dieses in der Regel stets nur eine qualifizierte Öffentlichkeit fand und findet. "So was wie mich gibt’s halt anscheinend wirklich nicht mehr. Aber das ist mir auch scheißegal."

Gary Indiana, geboren 1950, heißt mit bürgerlichem Namen Gary Hoisington; aufgewachsen ist er in armen, aber nicht armseligen Verhältnissen als Einzelkind am Land, im Bundesstaat New Hampshire. Nach dem High School-Abschluss zieht der schwule Teenager zum Studium an die Westküste. Als er inskribiert, erlebt seine Alma Mater, die Universität Berkeley, gerade den ersten Höhepunkt der Studentenproteste. Einer seiner Lehrer ist Herbert Marcuse. "Er ist am Ende eines Semesters zu mir gekommen und hat mir erklärt, dass ich sein bester Student bin. Das Problem war, dass ich zu diesem Zeitpunkt total davon überzeugt war, dass die Weltrevolution bevorsteht." Hoisington bricht die Uni ab und engagiert sich in linksradikalen Gruppen. Bis er einsehen muss, dass es mit der Befreiung der Verdammten dieser Erde doch nicht so weit her ist, wie er dachte, dauert es bis Mitte der 70er. Noch bevor er sich Richtung Osten aufmacht - er wird New York City, abgesehen von ausgedehnten Reisen nach Europa, Lateinamerika und Indien, ab diesem Zeitpunkt nicht mehr verlassen - legt er sich einen Künstlernamen zu (Gary, Indiana, ist eine Stadt im Mittleren Westen der USA, die heute vor allem als Geburtsort von Michael Jackson bekannt ist).

Auf der damaligen Lower East Side, die mit ihrem heutigen Erscheinungsbild ungefähr so viel zu tun hat wie Berlin 1945 mit Disneyworld, findet er nicht nur Leute, mit denen er seine zahlreichen Interessen ausleben kann (Theater, Dramaturgie, Schauspielerei - die Frühwerke finden sich zusammengefasst im 2010 erschienenen Band "Last seen entering the Biltmore") sondern auch so etwas wie einen Mentor. William Burroughs, als Verfasser von "Naked Lunch" oder "Queer" schon damals eine Legende, beeinflusst Indiana wie keiner vor und nach ihm. "William war ein Gigant, in seinem Denken wie in seiner Schreibe. Wahrscheinlich wird nie wieder jemand an ihn herankommen."

Wenn man sich mit Indiana über die späten 70er und frühen 80er in New York unterhält, purzeln die Namen von anderen heute bekannten Leuten, mit denen er befreundet war oder ist, nur so herum, tote und lebendige. John Lurie, Jean-Michel Basquiat, Andy Warhol und seine Entourage ("Wir waren immer schwer angepisst, wenn er im Mudd Club auftauchte. Wenn Warhol einen Raum betrat, hat sich immer alles sofort auf ihn konzentriert."), Kathy Acker, Jim Jarmusch, Taylor Mead, und so weiter und so fort. Nostalgie mag er trotzdem keine aufkommen lassen: "Die Mythologisierung dieser Zeit nervt einfach nur. Downtown war ein Drecksloch, aber das hatte halt seine Vorteile."

Nachdem er Anfang der 80er für Magazine wie "Artforum" und "Art in America" über Kunst zu schreiben begonnen hatte, ("Ich hatte den Redakteuren gesagt, dass ich keine Ahnung davon hätte. Die haben gesagt: ,Mach dir keine Gedanken, schau dir ein paar unserer alten Ausgaben an und schreib einfach.‘") landete Indiana als fixer Kritiker bei der damals noch namhaften Stadtzeitung "Village Voice". Obwohl es ihn dort nur eineinhalb Jahre hält, zementiert er in dieser Zeit seinen Ruf als so kluger wie unbarmherziger Kopf; allein seinem persönlichem Geschmack folgend, nutzt er seine Funktion, um von ihm geschätzten, aber in den USA unbekannten europäischen Künstlern eine Öffentlichkeit zu geben (unter anderem verdankt ihm Valie Export das erste Interview in einem US-Medium, nachzulesen im Onlinearchiv des Magazins "Bomb", 1982). Unmittelbar nach dem "Voice"-Intermezzo veröffentlicht Indiana zwei Short-Story-Bände und seinen ersten, schwer autobiografisch gefärbten Roman: "Horse Grazy" (1989), die tragische Chronik der Liebesbeziehung eines Junkies, der sich von dem ihm hörigen Protagonisten aushalten lässt.

Alles Diebe!

Seitdem hat es Indiana auf neun Romane und sechs Non-Fiction-Titel gebracht (das Gros davon Essay-Sammlungen oder Essays in Buchlänge, etwa: "The Schwarzenegger Syndrome: Politics and Celebrity in the Age of Contempt"). Müde ist er bis heute nicht, auch wenn das Erscheinen seines bislang letzten Werks, des Romans "The Shanghai Gesture", ein komplett abgedrehter Thriller, in dem der beständig drogenumnebelte Protagonist die Wege eines gewissen Herrn Doktor Fu Manchu zu kreuzen trachtet, auch schon wieder zwei Jahre her ist.

Heute unterrichtet Gary Indiana Philosophie und Literatur an der New School in Greenwich Village, jener Non-Profit-Privatuni, die seit ihrer Gründung 1919 für einen scheinbar unaufhörlichen Strom neuer Künstler, Denker, Journalisten und aller möglichen anderen Repräsentanten der Ostküsten-Kulturelite sorgt. Und er unternimmt ausgedehnte Reisen nach Kuba, wo er viele Freunde hat und "wo in mancher Hinsicht viel mehr Freiheit herrscht als hier." Fix aus New York wegziehen sei keine Option, "auch wenn die Stadt kaum mehr auszuhalten ist. Schau dir bloß den Bürgermeister an. Willst du mir erzählen, dass Michael Bloomberg sein Geld verdient hat? Bullshit! In diesem Land wird keiner zum Milliardär, der arbeitet. Wer soviel Geld hat, der hat es jemandem weggenommen. Und Leute, die anderen ihr Geld wegnehmen, bleiben, was sie sind: Diebe."