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Sozialaufruhr in Lulas Brasilien

Von Emilio Rappold

Politik

In Brasilien gärt es: In Sandovalina im Teilstaat Sao Paulo errichteten Frauen am Wochenende mit den Körpern ihrer 20 Kinder eine Straßensperre, um einen Milch-Lastwagen zum Halten zu zwingen und zu plündern. Im nordöstlichen Staat Pernambuco stürmten binnen weniger Tage landlose Bauern 18 Großgrundbesitzungen. Und in Sao Bernardo halten 4.000 Obdachlosenfamilien seit gut einer Woche ein Grundstück des Automobilherstellers Volkswagen (VW) besetzt - Momentaufnahmen eines verarmten Landes, das trotz ambitionierter Politiker die Hoffnung verliert.


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"Man darf die Geduld der Armen nicht überstrapazieren", erinnerte Frei Betto kürzlich in einer von den wichtigsten brasilianischen Tageszeitungen veröffentlichten Würdigungsschrift anlässlich des "Bauerntages". Die Armen seien des Wartens und der Massaker müde und organisierten sich deshalb in Gruppen wie der "Bewegung der Landlosen" (MST). Brasilien verdiene es einfach nicht, ein "mit Blut überflutetes Land" zu sein, bedauert der Mann, der daheim und auch in Europa ein angesehener Theologe, Soziologe und Schriftsteller ist.

Frei Betto ist aber auch ein wichtiger Angehöriger der neuen Mitte-Links-Regierung und Sonderberater von Staatspräsident Lula da Silva. Er zeigt für die ungewöhnliche Besetzungswelle durch Land- und Obdachlose ebenso Verständnis wie Städteminister Olivio Dutra oder andere Kabinettsmitglieder. Die täglich zunehmende Sozialkrise droht die Regierung nur sieben Monate nach Amtsantritt zu spalten. Der Minister für Landwirtschaft Roberto Rodrigues kritisierte die Aktionen zum Beispiel als "kriminell" und "Demokratie gefährdend".

Lula, der selbst aus der Arbeiterbewegung stammt, hüllte sich in der vergangenen Tagen in Schweigen. Selbst als MST-Chef Joao Stedile bei einem Landlosen-Treffen zum "Krieg" gegen die Großgrundbesitzer aufrief. "Wir sind 23 Millionen gegen 27.000 Großgrundbesitzer. Wer wird da wohl gewinnen, wenn wir zusammenhalten? Wir dürfen nicht ruhen, bis wir sie fertig gemacht haben", sagte Stedile.

Teile der Regierung sind davon überzeugt, dass "Trittbrettfahrer" den wachsenden Unmut zur Destabilisierung ausnutzen wollen. "Wir haben keine Zweifel, dass politisch motivierte Leute die Protestbewegungen infiltriert haben", sagte ein enger Lula-Berater der Zeitung "Estado". Es soll sich um "radikale Kräfte" handeln, die nicht nur Land- und Obdachlosen beeinflussen wollen, sondern etwa auch die Beamten, die für August eine Intensivierung der Streiks und Proteste gegen die geplante Rentenreform angekündigt haben.

Weiter geht der angesehene Starjournalist Zuenir Ventura: "Die MST von Joao Stedile träumt nicht von der Agrarreform, sondern von einer Revolution". Auf dem besetzten Grundstück von Volkswagen unweit der Metropole Sao Paulo scheint Obdachlosen-Koordinatorin Camila Alves nicht widersprechen zu wollen. "Wir wollen in Brasilien den wahren Sozialismus einführen", sagte sie. Bereits in den ersten fünf Monaten des Jahres hatte es mehr Landbesetzungen gegeben als in ganz 2002.

Lula, der als Hoffnungsträger der Armen angetreten war, inzwischen aber mit einer konservativen Wirtschaftspolitik immer mehr seiner einstigen Weggefährten und Anhänger gegen sich aufbringt, kann als einzigen Trumpf den Sieg über die Inflation vorweisen. Von der Wirtschaftsfront kamen in den vergangenen Tagen aber Nachrichten über Rezession, Rekordarbeitslosigkeit und einen starken Rückgang der Direktinvestitionen. Zumindest die Landlosen in Sao Bernardo haben nun aber Grund zur Freude: Ein Richter setzte am Montag die von der Polizei angedrohte Räumung der errichteten Siedlung auf dem stillgelegten VW-Gelände vorläufig aus. Verhandlungen über einen Verkauf des 22-Hektar-Grundstücks an die 4.000 Besetzer sind im Gange.