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Sozialdemokratischer Schleudersitz

Von Alexander Dworzak

Politik

Acht Vorsitzende hat die deutsche SPD binnen 20 Jahren verschlissen. Ob Alphamann, Feingeist oder die erste Frau im Amt – den Abstieg konnte niemand aufhalten. Nun läuft die schwierige Kandidatensuche auf eine Doppelspitze hinaus.


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Berlin/Wien. Kein Minister und auch niemand der sieben Ministerpräsidenten wagt sich aus der Deckung: Die SPD-Oberen geben sich bei der Suche nach einem neuen Vorsitz für die deutschen Sozialdemokraten zugeknöpft. Entweder sagen sie ab, so etwa Niedersachsens Landesvater Stephan Weil. Oder sie machen es wie Generalsekretär Lars Klingbeil, taktieren und spielen auf Zeit. Allzu viel davon haben sie nicht mehr, am 1. September endet die Bewerbungsfrist.

Prominenteste Kandidaten sind bisher Gesine Schwan und Ralf Stegner. Die zweimalig erfolglose Bewerberin um das Präsidentschaftsamt und der Vizechef vom linken Parteiflügel verkünden laut "Spiegel" am Freitag ihr gemeinsames Antreten. Drei weitere Doppelspitzen stehen zur Wahl: Die ehemalige Familienministerin von Nordrhein-Westfalen, Christina Kampmann, versucht es gemeinsam mit Michael Roth, dem Staatsminister im Auswärtigen Amt. Die Bundestagsabgeordneten Nina Scheer und Karl Lauterbach kandidieren ebenso sowie die Bürgermeister von Flensburg und Bautzen, Simone Lange und Alexander Ahrens. Alleine probieren es der ehemalige Bundestagsabgeordnete Hans Wallow und der Unternehmer Robert Maier.

Falsch, egal was die SPD macht

Weil die großen Namen bisher fehlen, ist Unmut in der Partei laut geworden. Generalsekretär Klingbeil musste bereits ausrücken, um den Bestellmodus zu verteidigen. Der ist auf Einbindung der Mitglieder zugeschnitten. In mehr als 20 Regionalkonferenzen können sie bis Oktober die Kandidaten kennenlernen, danach geben die knapp 430.000 eingeschriebenen Genossen ihre Stimme ab. Die formale Entscheidung folgt im Dezember bei einem Parteitag. Anstatt wie in der Vergangenheit den oben paktierten Kandidaten durch die Basis abnicken zu lassen, geht die SPD einen transparenten Weg. Doch auch das passt einigen nicht. Typisch für das derzeitige Bild der Partei: Sie kann machen, was sie will. Es wird immer als falsch wahrgenommen.

Von 40 auf unter 15 Prozent

Zu gewinnen gibt es ohnehin wenig. Lag die SPD vor 20 Jahren über der 40-Prozent-Marke, weisen die Umfrageinstitute nun katastrophale Werte von 11,5 bis 14,5 Prozent aus. Innerhalb von zwei Dekaden haben die Sozialdemokraten nicht nur den Großteil ihrer Anhänger verloren, sondern auch acht Parteivorsitzende verschlissen.

Nach den Abtritten des hemdsärmeligen Kanzlers Gerhard Schröder und seines Kompagnons Franz Müntefering hat 2005 die große Suche begonnen. Der Verlust des Kanzleramtes traf die SPD dabei ebenso schwer wie die inhaltlichen Selbstzweifel. Ließen doch Schröders Sozial- und Arbeitsmarktreformen Agenda 2010 die Linkspartei aufkommen. Der nachdenklich-zurückhaltende Matthias Platzeck konnte die Genossen nicht aufrichten, er galt schnell als zu weich.

Orientierung fehlt

Seinem Nachfolger Kurt Beck wurde das Jovial-Bodenständige in der Hauptstadt als Provinzialität ausgelegt - ein Schicksal, das er mit seinem Pfälzer Landsmann Helmut Kohl teilte. Die Schmähungen steckte Beck jedoch nicht einmal halb so gut weg wie der konservative Langzeitkanzler.

Die SPD wandte sich daraufhin wieder den Alphamännchen zu. Nach einem Intermezzo Münteferings war Sigmar Gabriels Stunde gekommen. Der hatte zwar einen wachen politischen Instinkt, aber vor lauter Wankelmütigkeit gab er der Partei nicht, was sie so dringend benötigte und ihr heute noch fehlt: Orientierung.

Dafür sollte danach Martin Schulz stehen, ein Mann, der als früherer Alkoholiker alle Tiefen im Leben gesehen, sich vom Buchhändler ohne Schulabschluss zum EU-Parlamentspräsidenten hochgekämpft hatte und für "klare Kante" stand. Weit gefehlt: Im Bundestagswahlkampf 2017 schlingerte Schulz, der sich falsch beraten fühlte. Wie groß das eigene Versagen war, musste das Publikum nach dem schlimmsten Ergebnis der SPD-Geschichte - 20,5 Prozent - mitansehen. Erst kündigte Schulz umgehend den Gang in die Opposition an, um dann Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU aufzunehmen. Als Schulz sich noch ein Ministeramt sichern wollte, obwohl er dies zuvor strikt verneinte, war der selbst ernannte Prinzipientreue endgültig entzaubert.

Geschlecht statt Inhalten

Schulz’ Scherben durfte Andrea Nahles aufkehren. Sie stand vor einem Balanceakt: Einerseits hatte sich die SPD aus Staatsräson für die Regierungsarbeit entschieden. Andererseits gab es weiterhin ein starkes Lager strikter Regierungsgegner, die auf Wunderheilung der geschundenen SPD dank eines Wechsels in die Opposition hoffte. Nur eine besonders starke Person an der Spitze schafft einen derartigen Spagat. Nahles hatte zwar eine jahrzehntelangen Parteikarriere hinter sich. Sie besaß jedoch nicht die notwendige Autorität und gab nach nicht einmal zwei Jahren auf. In die mehr als 150-jährige Geschichte der SPD geht sie trotzdem ein, als erste Frau, die den Vorsitz innehatte.

Ihre Nachfolge soll eine Frau antreten, zumindest in Form einer Doppelspitze. Das lassen mehrere Parteigranden durchblicken. Flugs dreht sich die öffentliche Debatte darum, wer mit wem (nicht) kann. Dabei birgt eine Doppelspitze Probleme, verlangt sie doch Koordinationsarbeit und ein Zurückstellen des eigenen Egos. Zudem überdeckt die Geschlechterdebatte, wie dünn die Personaldecke ist.

Wer sich den Vorsitz antut - Familienministerin Franziska Giffey nicht, sie sagte am Donnerstag ab -, muss inhaltliche Weichenstellungen treffen. Wofür steht die Sozialdemokratie, wer braucht sie heute noch? "Die SPD ist linker als die Linkspartei geworden und ökologischer als die Grünen", wetterte Sigmar Gabriel vor kurzem gegenüber dem "Kölner Stadt-Anzeiger". Die Konzentration auf Gruppen- und Minderheitenthemen habe zur Abwanderung der Kernwähler geführt, der "leistungsbereiten Arbeitnehmer". Zwar muss sich Gabriel die Frage gefallen lassen, warum er in seinen acht Jahren als SPD-Vorsitzender nicht gegengesteuert hat, aber seine Analyse trifft einen wunden Punkt - gerade in der Kritik einer allzu liberalen Migrationspolitik.

Raus aus der Regierung?

Die neue Spitze muss auch die Koalitionsfrage im Bund endlich klären. Das schwarz-rote Regierungsabkommen beinhaltet eine sogenannte Revisionsklausel, wonach zu Mitte der Legislaturperiode die bisherige Arbeit beurteilt wird. In der SPD gibt es dazu zwei Lesearten: Ein Teil möchte dann inhaltlich nachbessern, andere sehen in der Klausel eine Fluchtmöglichkeit aus der Regierung, die bis 2021 angesetzt ist.

Zuvor wird es noch in den Bundesländern ungemütlich. Bei drei Landtagswahlen in Sachsen, Türhingen - jeweils Anfang September - und Brandenburg Ende Oktober drohen der SPD Debakel. Die Fragen nach Inhalt und Koalitionsausstieg werden danach wieder gestellt.