Die Verbesserung der Lebensbedingungen möglichst vieler Menschen - dieses politische Ziel, das Bruno Kreisky als österreichischer Bundeskanzler formuliert hat, ist auch unter den heutigen Bedingungen noch sinnvoll.
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Die Ära Kreisky bildete in gesellschaftspolitischer Hinsicht eine Kulminierung eines Entwicklungsprozesses, der die Nachkriegsjahrzehnte in Österreich wesentlich prägte. Ein Kernpunkt des Anspruches von Bruno Kreisky und seiner Regierung war es, die gesellschaftlichen, d.h. sowohl die wirtschaftlichen als auch die sozialen Bedingungen der arbeitenden Menschen und deren Familien zu verbessern. Mit Reform war damals tatsächlich noch die realisierte Verbesserung von Bedingungen zugunsten der Betroffenen verstanden worden - und nicht, wie heute üblich, jegliche Änderung, ungeachtet ihrer oft nachteiligen Folgen für die Betroffenen.
Diese Ausrichtung in den gesellschaftspolitischen Optionen hat Kreisky in seiner Parteitagsrede im Jahr 1976 deutlich gemacht: Nachdem die Sozialminister Böhm, Maisel und Proksch nach 1945 ein großes Stück des Wohlfahrtsstaates weiterentwickelt hätten, habe Sozialminister Häuser in den letzten Jahren den Wohlfahrtsstaat "nicht nur geräumiger gemacht, sondern sehr weitgehend seiner Vollendung entgegengeführt . . . Wir haben also die Gesellschaft reformiert. Unserer Reformpolitik ist an konkreten Gegebenheiten orientiert". Die Verwirklichung der sozialen Demokratie wurde als eine ständige Aufgabe betrachtet.
Konkrete Reformen
Die Reformpolitik der Regierung Kreisky fokussierte auf Themen und Problemlagen wie die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern und Berufsgruppen (Arbeiter und Angestellte), auf die Reform des Familienrechtes mit der Gleichstellung der Frau in und außerhalb der Ehe, auf den Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung und des Bildungssystems, auf die Erweiterung der Sozialversicherung auf Selbstständige - insgesamt auf die Vertiefung und Verwirklichung sozialer Demokratie.
Im Blickpunkt der Gesellschaftspolitik stand neben der Verbesserung der Bedingungen der Erwerbstätigen und der Familien nicht zuletzt auch ein Thema, das die folgenden Jahrzehnte als "sozialer Dauerbrenner" bis heute begleiten sollte: die Arbeitslosigkeit. Bekannt und zugleich in der Nach-Kreisky-Entwicklung seitens bürgerlicher Parteien und Unternehmervertretungen heftig umstritten waren zwei Aussagen Kreiskys. Als im Gefolge der durch die Erdölpreiskrise ausgelösten wirtschaftlichen Rezession die Arbeitslosigkeit im Jahr 1975 auch in Österreich zu steigen begann, skizzierte Kreisky 1975 seine Sicht folgend: "Unter Einsatz aller zu Gebote stehenden Möglichkeiten ein hohes Beschäftigungsniveau zu halten, weil Österreich nicht reich genug ist, sich den Luxus der Massenarbeitslosigkeit leisten zu können".
Nachdem Arbeitsmarktprobleme trotz gegensteuernder Maßnahmen andauerten, konstatierte er im Wahlkampf 1979: "Ein paar Millionen Schulden mehr bereiten mir weniger schlaflose Nächte als ein paar hunderttausend Arbeitslose". Würden die entscheidungsrelevanten politischen und gesellschaftlichen Akteure in der EU heute ebenso denken und handeln wie Kreisky, kämen sie nicht mehr zum Schlafen. Warum?
In der EU sind zur Zeit über 26 Millionen Menschen arbeitslos. Die Arbeitslosenquote betrug in der "EU 28" im Jänner 2014 11 Prozent, in Österreich annähernd 5 Prozent. Die Jugendarbeitslosenrate lag EU-weit im gleichen Monat bei über 23 Prozent (Österreich 8,9 Prozent), in Ländern wie Griechenland bei 60 Prozent, in Spanien bei 54 Prozent, in Kroa-tien bei 50 Prozent.
In der EU tun sich enorme Spaltungslinien auf zwischen Ländern im Norden und Süden, zwischen Ländern im Westen und im Osten. Wohin bewegt sich vor diesem Hintergrund die EU in gesellschaftspolitischer Hinsicht? Diese Ausrichtung ist für die gesellschaftspolitische Entwicklung der Mitgliedstaaten von großer Bedeutung. Dies ist zugleich ein wesentlicher Unterschied zur Gestaltung der Politik in den 1970/1980er Jahren.
Mit der Europa-2020-Strategie wird ein "intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum" angepeilt. Näherhin konkretisiert geht es um die Erhöhung der Beschäftigungsquote der Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren von derzeit 69 Prozent auf mindestens 75 Prozent, die Erhöhung der Investitionen, die Reduzierung des Anteils von Schulabbrechern sowie des Anteils an BürgerInnen unterhalb der jeweiligen nationalen Armutsgrenze um 25 Prozent. Dies entspräche einer Herausführung von 20 Millionen BürgerInnen aus der Armut.
Doch wie steht es um die realen Chancen der angepeilten Ziele? Bildet dafür nicht die neoliberale Ausrichtung der aktuellen EU-Politik einen Hemmschuh? Stehen den im Rahmen der EU-2020-Strategie propagierten Zielen nicht Entscheidungen der letzten Jahre wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung bzw. der Fiskalpakt entgegen? Wie demokratisch sind dabei Entscheidungsprozesse in einer EU, die nicht gerade der Inbegriff demokratischer Strukturen ist? Entscheidungen wie der Fiskalpakt wurden an Entscheidungen demokratischer Institutionen vorbeigeführt.
Wie soll die Befreiung von 20 Millionen Menschen aus der Armut erreichbar sein, wenn der Handlungsspielraum für eine Konjunkturpolitik äußerst eingeschränkt ist? Wenn die bevorzugte Ausrichtung an der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte durch Sparpolitiken und der diesbezügliche Druck seitens der EU, nicht nur auf die südeuropäischen "Krisenstaaten", für die reale Entwicklung der EU-Mitgliedsländer insgesamt bestimmend ist? Können die angeführten Ziele mit weniger Mitteln erreicht werden?
Die EU war nicht in der Lage, die für das letzte Jahrzehnt festgelegten Lissabon-Zielvorgaben, nämlich Vollbeschäftigung, Erhöhung der Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen und damit des Wirtschaftswachstums (von drei Prozent) sowie Stärkung des sozialen Zusammenhalts zu erreichen. Die Rahmenbedingungen für die Zielerreichung der Europa-2020-Strategie sind nicht günstiger, im Gegenteil. Der von der EU-Kommission forcierte Austeritätskurs hat sich als erfolglos erwiesen: das Problem der öffentlichen Verschuldung dauert ebenso an wie das der Arbeitslosigkeit und der Armutsrisiken. Vielen jungen Menschen wird damit die Zukunft verbaut.
Ein neuer Kurs der EU
Die bestimmende Orientierung in der EU im Gefolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise engt Handlungsspielräume für Gesellschaftspolitik nicht nur ein, sondern produziert durch die vorrangig forcierte Austeritätspolitik im Bereich von Löhnen, Arbeitsbeziehungen und sozialer Sicherung soziale Schieflagen zu Lasten jener, die für die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht verantwortlich sind.
Die angepeilten Ziele der Verbesserung der Bedingungen der Beschäftigung, Bildung und Armutsbekämpfung werden ohne einen Kurswechsel in der EU nicht erreichbar sein. Ein Kurswechsel wäre nicht zuletzt aus Gründen der Legitimation des EU-Projektes erforderlich, da dafür die soziale Dimension eine wesentliche Rolle spielt und in Zukunft noch mehr spielen wird. Die EU sieht sich aufgrund verstärkter sozialer Problemlagen und verbreiteter enttäuschter Erwartungen mit großen Akzeptanzproblemen konfrontiert. Selbst in Österreich, das die Krise bisher vergleichsweise glimpflich überstanden hat, glauben laut aktuellem Eurobarometer nur 27 Prozent der Befragten, dass sich die EU in die richtige Richtung entwickelt.
Die bevorstehenden EU-Parlamentswahlen könnten ein Ansatzpunkt dafür sein, die aktuelle Entwicklung der EU, ihre Ausrichtung und Prioritäten zu diskutieren: ob der Fokus weiterhin oder sogar (beispielsweise durch den angepeilten Wettbewerbspakt) noch verstärkt auf die Bevorzugung des Marktes gelegt werden sollte oder ein Kurswechsel in Richtung sozialer Demokratie, in Richtung Berücksichtigung der sozialen, kulturellen, ökologischen und wirtschaftlichen Interessen der Bevölkerung angepeilt werden sollte. Ich meine, es ist nicht schwer zu erahnen, welche Ausrichtung Kreisky auch heute noch präferieren würde. Gefordert ist eine klare inhaltliche Positionierung, wie der soziale Zusammenhalt innerhalb der EU und innerhalb der Mitgliedstaaten gesichert, welche Prioritäten diesbezüglich verfolgt werden sollten.
Politische und soziale Demokratie stehen in einem engen Naheverhältnis und bedingen sich gegenseitig. Diese Sicht war ein Kernpunkt des Kreiskyschen Politik- und Gesellschaftsverständnisses. Die Politik der interessenpolitischen Schieflage zerstört nicht nur den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft. Sie benötigt letztlich zu ihrer Durchsetzung einen politischen Rahmen, der autoritäre Entscheidungen bei Ausschaltung jeglicher demokratischer Beteiligung und oppositioneller Widerständigkeit ermöglicht. Die Periode des Austrofaschismus insgesamt ist ein eindrückliches Beispiel dafür: Die Ausschaltung der Demokratie und oppositioneller Parteien diente dazu, den Interessen der Industrie, des Gewerbes und der Großbauern zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Konsequenzen der Ausschaltung der Demokratie 1933/34 musste auch Bruno Kreisky leidvoll erfahren.
Eine eingehende demokratiepolitische Auseinandersetzung mit dem Austrofaschismus und seinen sozialen Folgen, insbesondere für die Arbeiterschaft, ist nach 1945 weitgehend unterblieben. Damit konnten auch antidemokratische Vorstellungen wie das Plädoyer für einen "starken Mann" überleben. So zeigte eine Jugendstudie aus dem Jahr 2007, dass jeder fünfte Jugendliche im Alter von 14 bis 24 Jahren (19 Prozent) einen "starken Mann" in der Politik präferierte. In der Gesamtbevölkerung im Alter von über 18 Jahren waren es 16 Prozent.
Kritischer Blick zurück
Auch nach 80 Jahren besteht kein Anlass, die Auseinandersetzung und Aufklärung über die Ausschaltung der Demokratie 1933/34 und ihrer Folgen der Option zu opfern, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Denn, so der kürzlich verstorbene prominente Faschismusforscher Reinhard Kühnl, "für die Sicherung einer menschenwürdigen Zukunft brauchen wir die Wahrheit über die Vergangenheit".
Soziale Verwerfungen, wie wir sie zur Zeit in Form von Massenarbeitslosigkeit und verbreiteten Verarmungsrisiken erleben, können zur Gefährdung der Demokratie führen und bilden das Spielmaterial für nationalistischen Sozialpopulismus. Verbaler Protest dagegen und Kritik daran reichen nicht aus. Sondern: Die Erhaltung einer sozialen Demokratie erfordert entsprechendes gesellschaftspolitisches Handeln und Initiativen auf nationalstaatlicher wie auf EU-Ebene. Ein Handeln, das zwar in den 1970er Jahren eine günstigere wirtschaftliche und soziale Basis hatte, aber auch damals keineswegs selbstverständlich war.
Emmerich Tálos wurde für sein publizistisches Gesamtwerk mit dem Bruno-Kreisky-Preis 2014 ausgezeichnet. Der Artikel ist ein längerer Auszug aus der Dankesrede des Geehrten.Emmerich Tálos, geboren 1944, war von 1983 bis 2009 Professor am Institut für Politikwissenschaft bzw. Staatswissenschaft der Universität Wien und ist seither im Ruhestand.