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"Soziale Müllmänner der Nation"

Von Solmaz Khorsand

Politik

Der deutsche Polizeiwissenschafter Rafael Behr erklärt, warum die Brutalität und die Hilflosigkeit der Polizei bei Einsätzen mit einer Tabuisierung des Gewaltbegriffs zu tun hat.


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Wien. Montagvormittag sorgte erneut ein Polizeieinsatz für Aufregung. Zehn Beamte versuchten einen tobenden Mann, der zuvor einer Frau nachgestellt haben soll, auf der Mariahilfer Straße vor einer aufgebrachten Menschentraube zu fixieren. Von Polizeigewalt war wieder die Rede. Es ist der jüngste Vorfall in einer Serie von Misshandlungsvorwürfen gegen die Wiener Polizei. Erst im März wurde der Fall einer Wienerin, die in der Silvesternacht von Beamten verletzt worden sein soll, aufgerollt.

Der deutsche Polizeiwissenschafter Rafael Behr analysiert im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" die jüngsten Vorfälle und erklärt, welche Folgen die Tabuisierung der Gewalt in der Polizei hat und warum sie nicht den Respekt in der Gesellschaft braucht, um zu funktionieren.

"Wiener Zeitung": Herr Behr, wie schätzen Sie den Einsatz der Wiener Polizei auf der Mariahilfer Straße ein?Rafael Behr: Das ist von der Polizei möglicherweise nicht ganz optimal gelöst worden. Man müsste annehmen, dass sie Festnahmetechniken haben, die wirkungsvoller und dabei weniger martialisch sind. Es ist mir schon komisch vorgekommen, dass sich die heraneilenden Beamten erst einmal die Handschuhe anziehen, nichts machen und den Mann da einfach so liegen lassen. Zumindest stellt man den Mann einmal auf und versucht ihn an Armen und Beinen festzuhalten. Das wäre vermutlich schon möglich gewesen.

Wer sich das Video ansieht, sieht vor allem eine aufgebrachte Menge. Es fallen Sprüche wie "Ich filme das, weil das Staatsgewalt ist und man nicht weiß, was mit dem passieren wird." Kann eine Polizei in einer Gesellschaft funktionieren, die ihr ein derartiges Misstrauen entgegenbringt?

Natürlich funktioniert eine Polizei auch ohne den Respekt in der Bevölkerung. Dann wird es eben eine Besatzungspolizei. Das kennen wir aus Russland und der Ukraine. Die Polizisten brauchen den Respekt nicht, solange die Bevölkerung genug Angst hat, und die wird so erzeugt, wenn die Polizei nur brutal genug vorgeht. Wir in den westlichen Demokratien stellen uns den Idealtypus der Polizei aber als Bürgerpolizei vor.

Die Polizeiführung tut das. Doch patrouilliert diese idealisierte Bürgerpolizei tatsächlich auf irgendeiner Straße?

Viele Cops auf der Straße nehmen sich immer noch nicht als demokratische Menschenrechtseinheit wahr, sondern als jene, die etwas durchsetzen müssen. Manche bezeichnen sich auch als soziale Müllmänner der Nation.

Was ist die Folge?

Diese Cops ziehen sich in ihre Lebenswelt aus Familie und Kollegen zurück, weil sie von außen nicht genug Wertschätzung erfahren. Diese Polizistenkultur dient auch der Immunisierung der Infragestellung. Schwierig wird es dann, wenn wir Zustände wie in Spanien oder den USA haben, wo die Polizei in eigenen Dörfern lebt, die abgeschottet sind vom Rest der Gesellschaft.

Durchdringt diese Cop Culture die gesamte Polizei?

Nein, am meisten trifft sie Interventionspolizisten wie zum Beispiel motorisierte Streifen oder die Wega, die nur kurzen Kontakt mit der Bevölkerung haben. Dieser Kontakt ist häufig aufgeregt und konfliktbehaftet. Da gibt es eine Schwarz-Weiß-Orientierung, ein Freund-Feind Schema, ein Gut gegen Böse. Man verzichtet hier auf lange Reden und Konfliktschlichtung, die hingegen bei den Kollegen auf der Fußstreife möglich sind. Die bekommen auch in der Regel mehr Wertschätzung entgegengebracht.

Sie haben mehrfach kritisiert, dass das Wort Gewalt nicht mehr in den Leitbildern der Polizei vorkommt. Warum ist das ein Problem?

Der Gewaltbegriff wird damit tabuisiert und in der Polizeikultur nicht mehr diskursiv verhandelt, sondern abgedrängt in den Alltag der Polizisten. Die Folge: Die Polizisten suchen sich dann Vorbilder aus anderen Bereichen zum Beispiel Filmidole. Ich glaube, durch die Verdrängung des Gewaltbegriffs aus der Polizeikultur ist verhindert worden, dass man ihn reflektierend nutzt. Bei uns in Deutschland wird nur über die Gewalt der Täter gesprochen, nie über die eigene Gewalt.

Gewalt ist in unserer Gesellschaft verpönt. Kann eine Polizei - die als staatliches Gewaltmonopol für sich beansprucht, die einzige Kraft im Staat zu sein, die legitim Gewalt ausüben darf - in einer gewaltaversive Gesellschaft nicht nur verlieren?

Nicht die Gewalt ist verpönt, sondern die real erlebte Gewalt. Wir sind eine gewaltaversive Gesellschaft, in der Gewalt nur dort legitim ist, wo sie als Medienkonserve, als Spektakel oder als Risiko angeführt wird. Wir leben in der Fiktion einer gewaltfreien Gesellschaft und selbst Polizisten werden geschult, dass sie alle Situationen erst einmal gewaltfrei regeln können. Die Anwendung von Gewalt ist die Ultima Ratio für Ausnahmefälle, wie zum Beispiel einen Amoklauf. Diese Haltung ist zwar insgesamt gut, führt im Anwendungsfall aber dazu, dass dieses Spezialwissen, das mit Gewaltsituationen angesammelt wurde, verloren geht. Wir haben derzeit wenige Situationen, in denen die Polizisten mit ihrer eigenen Gewaltsamkeit rational umgehen können.

Ist das der Grund, warum manche Beamten von 0 auf 100 schalten und die Situation eskaliert, weil sie in der Ausbildung keine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Thema Gewaltanwendung haben?Entweder das oder es passiert das, was wir im Video gesehen haben. Dass man Dinge tut, die ein Laie auch tun würde. Man legt sich auf den Betroffenen drauf, drückt ihm die Luft ab, bleibt in dieser Agonie stecken und hofft, dass einem jemand hilft.

Sie schreiben in Ihren Arbeiten, dass Fehlverhalten in der Polizei lediglich rechtlich und taktisch aufgearbeitet wird. Warum gibt es keine moralische Aufarbeitung?

Die Polizei lebt von der Ideologie der Fehlerfreiheit. Und wenn sie Fehler macht, dann gibt sie nur das zu, was nicht abweisbar ist, schämt sich wie ein geprügelter Hund und versucht schnell darüber hinwegzugehen. Ein Eingeständnis bedeutet oft eine strafrechtliche Verantwortung. Man kann nicht einfach sagen: Entschuldigung. Denn dann kommt die Frage nach den Konsequenzen.

Vergangenes Jahr gab es rund 250 Misshandlungsvorwürfe gegen die Wiener Polizei, eine Anzeige und keine Verurteilung. Wie kann das sein?

Das hat eine eigene Dynamik. In Wirklichkeit stellen die Gerichte immer dann die Verfahren ein, wenn die Schuld nicht einwandfrei erwiesen ist, also beispielsweise wenn die Polizisten nicht mithelfen die Sache aufzuklären, Dinge verschweigen oder nicht aussagen. Dann ist es eben so, dass die Sache im Zweifelsfall für den Angeklagten entschieden wird. Sie kriegen einen Freispruch zweiter Klasse wegen nicht erwiesener Schuld.

Weil die Beamten sich weigern zu kooperieren?

Genau. Weil sie sagen, ich habe weggeguckt, habe mir den Schuh gebunden oder kann es nicht genau sagen. Das nennen wir die Mauer des Schweigens. Das ist der berühmte Korpsgeist.

Rafael Behr ist Dekan des Fachhochschulbereichs der Akademie der Polizei Hamburg. Außerdem ist der
studierte Kriminologe und Soziologe, der vormals 15 Jahre selbst Polizist war, Mitglied im Reformprojektteam
"Polizei. Macht. Menschen. Rechte" der Österreichischen Polizei.