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Soziale Ungleichheit braucht sozialen Ausgleich

Von Holger Blisse

Gastkommentare

Die Menschen, die als Flüchtlinge und Migranten zu uns kommen, legen die Unterschiede in unserer Lebenswelt noch offener.


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Heutige Flüchtlingsströme und (Arbeits-)Migration rufen Erinnerungen wach: Im Rückblick auf die Zeit des Wirtschaftswunders der 1950er und 1960er Jahre sagte man, damals seien Arbeitskräfte gerufen worden, aber Menschen gekommen - mit ihrem Wunsch, die eigenen Lebensumstände zu verbessern, mehr Geld zu verdienen, als es in der Heimat möglich war, und ihre Familie zu unterstützen. Viele fanden hier eine neue Heimat und blieben. Integrationsbegleitung gab es damals so gut wie keine.

Die Menschen, die es heute nach Europa zieht, hat niemand gerufen, und sie selbst haben es sich auch nicht immer ausgesucht. Doch vielen erschien die beschwerliche Flucht als einziger Ausweg, um Krieg, Verfolgung oder auch Armut zu entkommen und sich und ihre Familien in ein hoffnungsvolleres Leben zu retten. Sie kamen für uns vor allem in den städtischen Ballungszentren in Europa überraschend. Anfänglich waren alle überfordert, auch angesichts der großen Zahl innerhalb so kurzer Zeit.

Doch im Rückgriff auf frühere Erfahrungen, auch mit Unterstützung derjenigen, die aus den Herkunftsländern schon länger eine neue Heimat in Europa gefunden haben, und damit insgesamt vor allem dank der Solidarität der aufnehmenden Bevölkerung, aber auch den staatlichen Angeboten, gelingen Beiträge zur Integration. Sie sind ein Signal, dass diese Menschen willkommen sind, auch wenn es die kulturellen, vor allem religiös geprägten Gegensätze nicht nur über eine Generation weiter auszuhalten gelten wird.

Unterschiedliche Umstände schon beim Start ins Leben

Die Menschen, die zu uns gekommen sind, führen uns ihre Not, aber auch Lebensfreude darüber vor Augen, dass sie in Sicherheit sind. Zugleich legen sie die Unterschiede in unserer Lebenswelt noch offener. Das Soziale ist einfach da, wo Menschen zusammen leben, arbeiten, wohnen . . .

Für Neuankömmlinge wie auch für Alteingesessene bleiben es immer die gleichen großen sozialen Themen wie Arbeit, Bildung, Familie, Gesundheit und Wohnen, bei denen Unterschiede bestehen, Ungleichheit zu beobachten ist und statistisch erhoben und gemessen wird: ob die Kinder in der Stadt oder auf dem Land aufwachsen; ob sie einen Garten haben; ob sie über viel oder wenig Spielzeug verfügen. Nicht nur das Familieneinkommen, sondern auch die Bildung der Eltern bestimmt unter anderem die späteren Berufs-, Bildungs- und Karrierewege - und damit die gesamten Lebenswege - der Kinder.

Bereits die Startbedingungen ins Leben sind für jede/n Einzelne/n sehr verschieden: In welchem Krankenhaus die Kinder zur Welt kommen; welche Schule besucht werden kann; welche Freunde, Lehrer und Mitschüler die jungen Menschen begleiten - das alles kann für die Zukunft von Bedeutung sein. Chancengleichheit wird es wohl nicht geben, vielleicht Chancengerechtigkeit in dem Sinne, dass es denen, die es aus den verschiedensten Gründen nicht leicht haben, nicht auch noch schwerer gemacht wird. Anderenfalls fallen die Unterschiede - sehr technisch gesprochen - gemessen an den formalen Bildungsabschlüssen, dem späteren Erwerbseinkommen und der Qualität der zugänglichen Daseinsgrundfunktionen noch größer aus.

Sozialer Aufstieg hilft, Ungleichheit zu überwinden

Soziale Ungleichheit ist ein Faktum, das sich fortsetzt. Sozialer Aufstieg hilft, sie zu überwinden, sofern er möglich bleibt. Unterschiede zu verneinen, hieße ebenso an der Realität vorbeizusehen, wie sie für unabänderlich zu erklären. Darum bedarf es begleitend eines sozialen Ausgleichs. Dieser ergibt sich fast wie von selbst aus dem Verständnis einer sozialen Gemeinschaft, im kleinen wie auch im größeren Maßstab - in Begriffen der Antike gesprochen vom "oikos" über die "polis" bis zur "res publica", also von der Hausgemeinschaft über die Gemeinde oder Stadt bis zum Staat oder sogar einer Staatengemeinschaft in der heutigen Zeit.

Soziale Errungenschaften wie die Sozialversicherung für den Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder auch Pensions- und Pflegeleistungen im Alter erscheinen uns heute selbstverständlich. So selbstverständlich, dass manche sie individualisieren, rationalisieren, jedenfalls zentralisieren wollen: Jede/r solle für sich selbst sorgen, sich versichern, damit die einen nicht für die anderen mitzuzahlen brauchen. Zusätzlich würden damit die Leistungsbereitschaft gesteigert und der Leistungserfolg individuell belohnt.

Der Markt als reiner Koordinationsmechanismus?

Ursächlich dafür ist eine gewisse Lohn-/Gehaltsspreizung, deren Ausmaß in der Schweiz sogar Gegenstand einer Volksabstimmung im Jahr 2013 war. Hintergrund ist, dass solche (Angestellten-)Gehälter, nicht zu sprechen von den selbständigen Verdienstmöglichkeiten, in unserer arbeitsteiligen und sich immer weiter spezialisierenden Arbeitswelt angelegt sind. Beispielsweise erhält der Manager als Koordinator an der Spitze ein höheres Gehalt aufgrund der hohen Verantwortung für das Ganze und seine spezielle Leistung, die am Arbeitsmarkt nur schwer zu erhalten und zu ersetzen und demzufolge teurer zu bekommen sei, wie argumentiert wird. Die finanziellen Vorteile begleiten persönliche Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.

Ohne Zweifel sind (so) hohe Gehälter nicht nur der Ausgleich für die hohe Leistung und Beanspruchung, sondern auch ein (materieller) Anreiz, diese Positionen anzustreben beziehungsweise anzunehmen. Dabei werden die Folgen außer Acht gelassen, die durch diesen Wettbewerb entstehen. Es wird auch gerne übersehen, dass die Leistungsträger und "die anderen" aufeinander angewiesen sind. Der Verzicht von Zweiteren oder die Tatsache, dass sie eben, aus welchen Gründen auch immer, nicht zum Zug gekommen sind, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Erstere an der Spitze stehen und so auch zu Spitzenverdienern werden.

Verschuldung schwächtden Wohlfahrtsstaat

Wenn die Luft zur Spitze hin sprichwörtlich immer dünner wird, so wird es an der Basis enger, wenn zusätzlich durch Automatisierung und Rationalisierung versucht wird, bestimmte Tätigkeiten menschlicher Arbeit zu ersetzen. Dies bedeutet für "oben" und "unten" gleichermaßen, dass es schwer ist, die eigene Position zu erhalten.

Für den Fall des vorübergehenden Scheiterns helfen wiederum die sozialen und privaten Sicherungssysteme beim Ausgleich. Doch diese greifen zum Beispiel nur bedingt bei den Selbständigen, und sie sind angesichts nicht ausgeglichener Staatshaushalte überlastet. Investitionen in die Zukunft im Vertrauen auf die Steuerkraft belasten künftige Generationen im Heute mit Staatsschulden. Auch hier ist das Soziale einzufordern. Denn offenbar fehlt es an der Bereitschaft oder auch der Fähigkeit, in der Gemeinschaft die ausgabennotwendigen Einnahmen gesellschaftspolitisch zu erzielen.

Betrachtet man einen handlungsfähigen Staat als kleinsten gemeinsamen Nenner einer Gemeinschaft, als soziale Einheit oder als soziales Ganzes, dann spiegelt sich im Saldo des Staatshaushaltes wider, dass diese Gemeinschaft in der Gegenwart nur teilweise willens und, gegebenenfalls aufgrund der wirtschaftlichen Situation, nur teilweise in der Lage ist, die von der demokratisch legitimierten Regierung mit (Geld-)Ausgaben belegte Politik gegenzufinanzieren.

Wenn auf der anderen Seite jenes Vermögen, das privatrechtlich organisierte Institutionen, die über Jahrzehnte ähnliche Leistungen als Ergänzung zu fehlenden staatlichen Leistungen erbracht und es dabei aufgebaut haben, in den Blick der individuellen Verwertung und Vorteilsnahme gerät, dann ist der soziale Zusammenhalt zusätzlich in Gefahr.

Darum wäre ein Bewusstsein dafür, dass wir alle mehr oder weniger aufeinander angewiesen sind, eine wertvolle Voraussetzung, um weder achtlos mit den Zahlungsverpflichtungen künftiger Generationen umzugehen noch mit den Ersparnissen und dem Verzicht früherer Generationen, wie er sich im Vermögen zum Beispiel der gemeinnützigen Bauvereinigungen oder der Kreditgenossenschaften und Sparkassen erhalten hat. Solange trotz sozialer Ungleichheit mithilfe eines Ausgleichs soziale Zufriedenheit fortbesteht, kommt es nicht zu sozialen Unruhen.

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