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Die Meinungsforschung zeigt: Die Zahl derer, die dem Staat die alleinige Vorsorgefunktion zuschreiben, ist deutlich zurückgegangen.
Was sich ändern wird, ist oft nicht vorhersehbar. Was sich ändert, was politisch geändert wird, sieht man oft verzerrt - zu rosig oder zu gräulich, grünstichig oder bläulich - je nach Parteibrillenfarbe und unter dem Druck schwerer Schlagzeilenbalken. Was sich geändert hat, sieht man nur noch grob; zwar verdeutlicht durch Statistiken, aber es fehlt das Grün der lebendigen Erinnerung. Immerhin - Ergebnisse aus Repräsentativumfragen, wie sie das FESSEL-GfK-Institut systematisch gesammelt hat, bieten eine Gedächtnisstütze. Und manchmal erkennt man in den Zahlenreihen auch einen Faden durch das Labyrinth der Jahre.
Jahrzehntelang dominierten Themen wie Wiederaufbau, Wiedererlangung der nationalen Souveränität und Konsolidierung des politischen, demokratischen Systems den österreichischen "Problemhaushalt". Die unter 50jährigen können die Phase von 1945-1965 kaum noch nachvollziehen. Es war die Periode der neuen Hoffnung, der nochmaligen Chance, der Befreiung, der "Ankunftseuphorie". Die Zukunft würde besser sein als die Vergangenheit. Wohlstand - anfangs bescheidener - wuchs. Man sparte. Erst auf "Nylons" (1950), später auf den "Fernseher" (1960), auf ein Auto, für die Auslandsreise. Der Staat sorgte für die soziale Sicherheit. Und er versprach sie auch - wahlperiodisch. Versprach Arbeitsplatz - und Rentensicherheit. Die Verstaatlichte Industrie war ein Flaggschiff - nicht nur von Schulklassen besucht und zwangsbewundert. Sie galt als unsinkbar (selbst als sie mit immer größeren Summen immer wieder endgültig saniert werden musste). Arbeitsplätze beim "Vater Staat" waren ein Ziel "aufs Innigste zu wünschen". Er bot Schutz und Schirm. Die Erwartung, er habe für alles zu sorgen, was außerhalb des - anfangs höchst bescheidenen - privaten Konsums lag, war ubiquitär ("Semper et ubique" lautete der Wappenspruch der ersten staatlichen Prestigezigarette, der Smart Export).
Die Politologen sprechen bezüglich dieses Phänomens von einer "sozialgarantistischen Grundhaltung". Die Politik verspricht. Die Bevölkerung glaubt und empfängt gerne. Und erwartet mehr desselben. Abschaffen (wegnehmen) lässt sich bei solcher Grundstimmung nur schwer etwas (Die 30-Schilling Wohnungsbeihilfe wurde meiner Erinnerung nach erst Mitte der 80er Jahre gestrichen, obwohl sie längst obsolet geworden war). Natürlich gibt es Veränderungen derartiger politischer Prioritäten. Neues tauchte auf: der Umweltschutz, Kampf gegen Verschwendung, Familienförderung, Steuersenkung, Budgetsanierung, das "Ausländerthema". Manches rückte wieder nach hinten (durch Problembearbeitung, durch Themenkonkurrenz), anderes gewann wieder an Boden (Alterssicherung). Das Vertrauen in die Allzuständigkeit des Staates ging zurück. Sei es, weil man sie grundsätzlich in Frage stellte, sei es, weil man dessen Überforderung einsah (Siehe Tabelle).
Man beharrt zwar - nahezu unisono - darauf, dass jeder Staatsbürger ein Recht auf ein bestimmtes Maß an sozialer Sicherheit habe, aber die Zahl derer, die dem Staat die alleinige Vorsorgefunktion zuschreiben, ist deutlich zurückgegangen. Der Wunsch, die Altersrenten mögen so hoch sein, dass man selbst nicht mehr vorzusorgen braucht, ist zwar noch weitverbreitet, aber der Glaube an die Kapazität ist nachhaltig geschwunden. Man meint zu wissen, dass es in manchen Bereichen zu Einsparungen kommen muss, wenn man das System der sozialen Sicherheit langfristig aufrechterhalten will.
Die Grundeinsicht für Reformnotwendigkeit ist vorhanden. Das schließt den politischen Aufschrei bei Reformschritten nicht aus - wenn sie einen selbst betreffen (leicht zu ertragen sind nur die Belastungen anderer; so wie "soziale Kälte" nur von den Maßnahmen des politischen Konkurrenten ausgeht, nicht aber von den eigenen "Kostenüberwälzungen").
So ist denn auch der Blick auf die Entwicklung des Sozialstaats nicht nur von der persönlichen Betroffenheit beeinflusst, sondern auch vom (eigenen) politischen Standpunkt. 36% der SPÖ-Anhänger und gar 43% der Grün-Sympathisanten stimmen (Alternativfragestellung) der Auffassung zu: "Der österreichische Sozialstaat ist in Gefahr. Die sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte werden Schritt für Schritt abgebaut."
ÖVP- beziehungsweise FPÖ-Wähler neigen in 90% zur (Alternativ-)Auffassung: "Im wesentlichen wird der österreichische Sozialstaat auch in Zukunft weiterbestehen. Um seine Finanzierbarkeit sicherzustellen, wird man aber immer wieder Anpassungen und Änderungen vornehmen müssen." Das war am Höhepunkt des "Sozialstaatsvolksbegehrens" 2002. Wirkliche Besorgnis aufgrund spürbarer "Entzugserscheinungen" ist aus den Daten wohl nicht abzulesen. Das wäre bei der jetzigen Staatsquote verwunderlich. Wenn der Staat "Kälte" zeigt, dann beim Nehmen.
Prof. Dr. Rudolf Bretschneider ist Geschäftsführer von FESSEL-Gfk.
Der Beitrag ist der soeben erschienenen Juni-Ausgabe des "Wiener Journal" (Haupthema: Sozialstaat) entnommen.