Die Marathon-Verhandlungen der Sozialwirtschaft um kürzere Arbeitszeit brachten kein Ergebnis für 125.000 Beschäftigte. Nun folgen Warnstreiks in ganz Österreich. Zeit, sich mögliche Folgen einer 35-Stunden-Woche anzusehen.
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Elwira Schlesinger, Pflegeassistentin bei der Caritas Sozialis Privatstiftung, ist beim morgigen Warnstreik "natürlich" dabei. Sie übernimmt sogar die Streikleitung: "35 Kolleginnen werden dann symbolisch für drei Stunden streiken." Symbolisch, weil es Schlesinger um eine Verkürzung der Arbeitszeit von derzeit 38 auf 35 Stunden geht. Und zwar erst nach den Früheinsätzen, "wenn die Patientinnen und Patienten versorgt sind", ist ihr wichtig zu betonen. Firma und Gewerkschaft seien informiert, Ersatz dort, wo nötig, organisiert: Der Großteil der 380 Kolleginnen und Kollegen in der mobilen Pflege bei der Caritas Socialis wird morgen also arbeiten.
Warum ein Warnstreik? "In der Pflege und Betreuung zuhause ist es nicht möglich, in Vollzeit zu arbeiten. Das würde fünf geteilte Dienste pro Woche bedeuten. Der Tag ist zerrissen und ich schlafe in der Pause fast ein an einem solchen Tag", erklärt Schlesinger. Ein solcher Tag bedeutet: Dienststart im ersten Haushalt um 6.30 Uhr bis 13.00 Uhr, nochmals Dienst von 16.30 bis 20.00 Uhr.
Die Arbeit sei ohnehin "sehr schwer": "Wir gehen zu Menschen, die bettlägrig, krank, manchmal auch Sterbende sind." Das bedeute Körperpflege, Heben, Bücken, also körperliche, "vor allem aber psychische" Anstrengung: "Man ist ständig mit Leid konfrontiert, auch Trauer, manchmal auch Aggressionen. Man weiß nie, was beim Nächsten folgt", sagt die 54-jährige Pflegeassistentin, die bereits seit 22 Jahren "am Krankenbett" arbeitet.
Deshalb war Schlesinger bei der Kundgebung der Gewerkschaften der Sozialwirtschaft Österreich am 5. Februar mit dabei, hat dort auch eine Rede gehalten, und zum Beispiel gesagt: "Glaubt mir, die geteilten Dienste, die machen einen fertig." Die 54-jährige hat auf 35 Stunden aufgestockt, weil ihr bewusst ist, dass sich die längere Phase mit 30 Stunden Wochenarbeitszeit nicht gut auf die Pension auswirken wird. Und nun streikt sie, weil: "35 Stunden in der Hauskrankenpflege sind genug."
Gewerkschaft will"die Schlagzahl erhöhen"
Es ist die Haupt- und eigentlich einzige Forderung der Gewerkschaft in den Kollektivvertragsverhandlungen der Sozialwirtschaft Österreich (SWÖ) für die 125.000 Beschäftigten, darunter jene der Volkshilfe und des Hilfswerks. Der Großteil sind Pflegekräfte, andere arbeiten in der Hortbetreuung oder der Sozialarbeit. Michaela Guglberger, Vertreterin der Dienstleistungsgewerkschaft Vida sagt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" jedenfalls: "Es wäre nun mal an der Zeit, den Druck rauszunehmen. Jeder weiß, dass man etwas beim Personal tun muss."
Bei der fünften, dreizehnstündigen Verhandlungsrunde fanden Guglberger und ihre Kollegin Eva Scherz von der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA-djp) jedenfalls kein Gehör bei den Arbeitgebervertretern. Sie wurde Montag Abend ohne Ergebnis unterbrochen. Das Argument der Arbeitgeber: Bei Teilzeitbeschäftigten bedeutet die Arbeitszeitreduktion eine reine Lohnerhöhung von 8,6 Prozent, "was nicht finanzierbar ist", sagt SWÖ-Verhandlungsführer Walter Marschitz im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Ein weiteres Argument: "Durch den Fachkräftemangel würde eine Arbeitszeitverkürzung die Versorgungslage in den Pflegeheimen akut zuspitzen." 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten arbeiten in Pflegeheimen, was die Situation verschärfe - "und also nicht zu einer Verbesserung, sondern einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führt".
Die Rechnung kann Guglberger nicht nachvollziehen: "Sagen wir, es sind 50 Prozent in Vollzeit, dann bedeuten drei Stunden weniger Wochenarbeitszeit bei 100 Beschäftigten 4,29 Vollzeitäquivalente." Das kann sie Marschitz am Montag, den 17. Februar beim nächsten Verhandlungstermin nochmals mitteilen. Die Gewerkschafterinnen vermissen konstruktive Verhandlungen, daher werde man jetzt "die Schlagzahl erhöhen", so Scherz in einer Aussendung.
Also gibt es insbesondere am heutigen Mittwoch Warnstreiks in zahlreichen Sozialbetrieben. Der ÖGB-Bundesvorstand hat bereits vor rund zwei Wochen grünes Licht für Streiks gegeben. Am frühen Nachmittag ist außerdem eine Kundgebung vor dem Sozialministerium geplant. Marschitz: "Wir kennen das schon aus den Vorjahren und schauen uns das an, bleiben gesprächsbereit." Wie schon Pflegeassistentin Schlesinger versicherte auch die Gewerkschaft, dass man aber sicherstelle, dass sich niemand um "Gesundheit oder Würde von Angehörigen sorgen" müsse.
Es ist also Zeit dafür abzuwägen, was für und was gegen eine Arbeitszeitverkürzung insbesondere in den betroffenen Branchen spricht.
Arbeitsbedingungensind nicht einfach
Wifo-Pflegeexpertin Ulrike Famira-Mühlberger wundert sich, dass 50 Wochen im Jahr die Rede davon ist, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern. Aber in der Zeit, wo Kollektivvertragsverhandlungen stattfänden, rücke das - auch medial - in den Hintergrund.
Das Problem der Branche sei eine hohe Fluktuation. Der vor wenigen Tagen veröffentlichte Arbeitsklimaindex der Arbeiterkammer zeigt, dass drei Viertel der Beschäftigten in der Altenpflege es für nicht wahrscheinlich halten, dass sie ihren Job bis zur Pensionierung ausüben können. Im Durchschnitt ist es jeder Zweite.
Eine Umfrage von 2014 unter Pflegekräften, habe Famira-Mühlberger gezeigt, dass es "den Befragten nicht nur um die geringe Bezahlung, sondern den enormen Arbeitsdruck" ging. Die Situation habe sich seither nicht verändert: "Gerade in Urlaubsphasen oder wenn jemand krank geworden ist, steigt die Arbeitsintensität nochmals. Dabei ist sie ohnehin extrem hoch in der Altenpflege." Die Arbeitszeit zu verkürzen wäre also "ein Baustein, um bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen". Weitere Themen wären mehr psychosoziale Betreuung, bessere Aufstiegsmöglichkeiten und höhere Löhne. Das wünschen sich die Beschäftigten.
Wie sich eine Arbeitszeitverkürzung auswirkt, lässt sich aber nicht so einfach beantworten, meint Wifo-Kollegin Ulrike Huemer, die sich mit der Arbeitszeit generell auseinandersetzt: Es mache einen Unterschied, ob mit oder ohne Lohnausgleich, ob es eine Knappheit oder ein Überangebot an Arbeitskräften gibt, wie sich Beschäftigte und Betriebe anpassen können - und welche Branche es betrifft.
Auswirkungen auf die Branche und die Volkswirtschaft
In der Pflege kann die Produktivität laut Huemer - anders als im Sachgüterbereich - weniger durch technologische Entwicklungen erhöht werden. Vor allem wenn sich die selbe Arbeit auf die gleiche Anzahl an Personen verteilt, verschlechtert das die Arbeitsbedingungen: "Mehr Auslastung pro Stunde würde noch mehr Arbeitsdruck bedeuten. Wenn es zu einer Verdichtung der Arbeit kommt, hat das negative Folgen auf die Gesundheit. Das Arbeit wird noch unattraktiver", sagt Huemer.
Bei vollem Lohnausgleich würde das die Pflegekosten erhöhen. Für die einzelnen Beschäftigten aber wäre es "ein Rädchen, dass die Arbeit attraktiver wird". Bei jenen in Teilzeit durch mehr Lohn, bei jenen in Vollzeit durch mehr Freizeit.
Thomas Grandner, Volkswirt und Leiter des Instituts für Arbeitsmarkttheorie und -politik an der Wirtschaftsuniversität Wien, spricht Argumenten gegen und für eine Arbeitszeitverkürzung. Auf der negativen Seite stehe das Kostenargument: Mit vollem Lohnausgleich erhöhen sich die Kosten. Höhere Kosten für Pflege bedeuten weniger Geld für den Konsum anderer Güter, was die Nachfrage anderer Branchen und daher Arbeitsplätze gefährde. Das wiederum lässt die Ausgaben des Staates zusätzlich zu den höheren Kosten an den sozialwirtschaftlichen Diensten, der ohnehin durch die öffentliche Hand getragen wird, steigen. Und die Steuereinnahmen sinken - soweit ein negatives Szenario.
Grandner geht allerdings eher von einem positiven Effekt aus - aus mehreren Gründen. Bei Vollzeitarbeitskräften sinke die Belastung durch weniger Stunden Arbeit: "Es könnte die Produktivität erhöhen. Wenn die Leute nicht mehr so ausgepumpt sind, haben sie mehr Kraft für die Patienten, mehr Aufmerksamkeit, es gibt weniger Unfall- und Fehlergefahr." Und bei Teilzeitarbeitskräften würde der höhere Lohn oder Gehalt direkt in den Konsum fließen, "also zu mehr Nachfrage in anderen Branchen führen". Selbst wenn sich Preise dann erhöhen, könne das einen Vorteil für die Volkswirtschaft haben: "Es würde die Sparneigung, die insbesondere bei Großverdienern mehr zu finden ist, reduzieren", sagt Grandner. Er sagt aber auch: "Wie groß der Effekt wäre, würde Glaskugelschauen bedeuten."
Für Schlesinger, die Caritas-Socialis-Pflegeassistentin, bleibt ihre Arbeit jedenfalls "eine wunderschöne, wir dürfen den letzten Abschnitt des Lebens hautnah miterleben". Trotzdem brauche es kürzere Arbeitszeiten und bessere Bedingungen, denn: "Man kann nur dann Trost spenden, wenn man selber getröstet wird. Es ist auch Pflegequalität, wenn wir ausgeglichen sind."