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Soziale Zeitbomben

Von WZ-Korrespondentin Brigit Holzer

Politik

Nach der Terrorserie vom Freitag stellt sich die Frage, warum es zum zweiten Mal in einem Jahr Paris getroffen hat. Antworten finden sich auch an den Orten, wo die Täter aufwuchsen - den von der Gesellschaft vernachlässigten Banlieues.


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Paris. Es ist mehr als zehn Jahre her, dass Ismaël Omar Mostefaï das Gymnasium Georges Brassens in Courcouronnes, einer Vorstadt im Süden von Paris, besucht hat. Dass sie sich trotzdem immer noch an diesen "extrem schwierigen" Schüler erinnert, sei daher kein gutes Zeichen, sagt eine ehemalige Lehrerin. "Damals sprach man noch nicht von Radikalisierung. Aber er gehörte zu jenen jungen Leuten, die ständig im Unterricht fehlen, mit der Schule und ihren Familien brechen." Auch heute gebe es in diesem sozialen Brennpunkt von Courcouronnes viele Jugendliche mit ganz ähnlichen Geschichten, sagt die Lehrerin. "Irgendwann ist man nicht mehr überrascht, wenn ein kleiner Dieb eines Tages eiskalt Leute töten kann."

So war es bei Mostefaï, der mit zwei anderen Terroristen am Freitag in die Pariser Musikhalle "Bataclan" eindrang und dort 89 Menschen erschoss, bevor er sich selbst in die Luft sprengte. Radikalisiert haben soll sich der 29-Jährige zwar in der 100 Kilometer südlich von Paris gelegenen Stadt Chartres, wo er mehrere Jahre lang lebte. Doch dem Bürgermeister von Courcouronnes, Stéphane Beaudet, war Mostefaï bereits als "Kleinganove" bekannt, der achtmal verurteilt, aber nie inhaftiert worden war. "Solche Formen von Radikalisierung aufzuspüren gehört nicht zum Job eines Bürgermeisters", verteidigt er sich. "Unsere Rolle besteht darin, das gute Zusammenleben zu fördern, vor allem durch eine umfassende Erziehungs- und Ausbildungsarbeit. Ich kann nicht an der Stelle der Eltern sein, um zu sehen, was ihr Kind um drei Uhr morgens im Internet macht."

Vom Ganoven zum Mörder

Welche Rolle spielen aber die Orte, an denen die Urheber der blutigen Terror-Serie aufgewachsen sind, bei ihrem Abdriften in den Extremismus? Nun, da die Debatte darüber längst entbrannt ist, warum Frankreich zum zweiten Mal in nur einem Jahr von blutigen Terrorakten erschüttert werden konnte, richten sich die beunruhigten Blicke auf die Lebensläufe der Täter. Sofort fallen Gemeinsamkeiten auf, die sie auch mit den Urhebern der Anschläge auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" und einen jüdischen Supermarkt im Jänner teilen. Es handelt sich um junge Franzosen oder Belgier mit Einwanderungshintergrund, die sich dem Islamismus zugewandt haben. Ihre Radikalisierung war den Behörden bekannt, nicht aber der Grad ihrer mörderischen Entschlossenheit. Meist waren sie zuvor Kleinkriminelle, stammten aus schwierigen familiären Verhältnissen - und aus verarmten Vorstadt-Ghettos in Belgien oder Frankreich, den sogenannten Banlieues.

Ohne Perspektiven

Die funktionalen Hochhaussiedlungen, wo in den 60er Jahren ausländische Arbeiter massenweise untergebracht wurden, kamen im Laufe der Jahre herunter, als sich die wirtschaftliche Lage verschlechterte und die Jobs verlorengingen. Die Mittelschicht zog weg, die Zurückgebliebenen mussten mit ansehen, wie immer mehr Graffiti in den Gängen der Wohnhäuser auftauchten, während die defekten Aufzüge immer seltener repariert wurden. In vielen dieser Vororte, die meist miserabel an die Städte angebunden sind, lebt ein großer Teil der Einwohner unter der Armutsgrenze. Die Kriminalitätsrate und die Arbeitslosigkeit, vor allem unter den unter 25-Jährigen, sind hoch. Zugleich gehören diese Gemeinden zu den jüngsten Frankreichs, wo teilweise die Hälfte der Bewohner minderjährig sind - doch es ist eine Jugend, die mit geringen Perspektiven aufwächst.

"Wer als Geburtsort im Lebenslauf eine Banlieue mit schlechtem Ruf stehen hat und vielleicht noch einen ausländisch klingenden Namen, wird zu Bewerbungsgesprächen oft gar nicht mal eingeladen", klagt Ouamar Benikene, dessen Eltern aus Algerien stammen und der in einer Jugend-Freizeiteinrichtung in der Pariser Vorstadt Les Ulis arbeitet. Genau zehn Jahre ist es her, dass sich die Wut über diesen Ausschluss einer ganzen Generation durch ein Land, das sich doch die Gleichheit auf die Fahne geschrieben hat, in gewaltsamen Krawallen entlud. Wochenlang lieferte sich die aufgebrachte Vorstadt-Jugend landesweit Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Präsident Jacques Chirac rief schließlich den Ausnahmezustand aus. Im Herbst 2007 flammten erneut Unruhen auf.

Seitdem haben sich zwar zahlreiche Initiativen gegründet, um junge Leute dort besser zu integrieren. Auch hat der Staat ein milliardenschweres Renovierungsprogramm gestartet, um die tristen Hochhaus-Siedlungen in ein lebenswerteres Umfeld zu verwandeln. "Es wäre falsch zu sagen, dass sich gar nichts getan hat", sagt Benekene. "Aber die Situation verbessert sich viel zu langsam. Nach wie vor stellen die Banlieues keine Priorität für die Politiker dar." Dabei hatte Präsident François Hollande vor seiner Wahl genau das versprochen. Der Regierung ist längst bewusst, dass lebende Zeitbomben in den Vorstädten heranwachsen. Regierungschef Manuel Valls hat seine Warnung vor einer "sozialen Apartheid" in Frankreich, die er bereits damals ausgab, nun erneut wiederholt. Sie gilt als Mitursache dafür, dass sich hunderte frustrierte junge Männer und Frauen hasserfüllt von Frankreich ab- und den Extremisten zuwenden. Auf rund 1500 wird die Zahl der Franzosen geschätzt, die sich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien und dem Irak angeschlossen haben - mehr als in jedem anderen Land der EU. Weil sie sehr oft aus den Vororten der großen Städte stammen, werden sich hier nun die Razzien konzentrieren, mit der die Regierung gegen die akute Gefahr weiterer Anschläge vorgehen will. Auch Saint-Denis im Norden von Paris, wo die französische Polizei gestern eine spektakuläre Anti-Terror-Aktion durchführte, ist eine solche Banlieue mit all den für sie charakteristischen Problemen.

"Ein kaltes Wiedersehen"

Zugleich warnt Claude Bartolone, Präsident der Nationalversammlung und Abgeordneter des betroffenen Regierungsbezirks Seine-Saint-Denis, vor voreiligen Schlüssen: "Man darf keine Verbindung knüpfen zwischen den einfachen Bevölkerungsschichten, den sozial schwachen Vierteln und diesen Terroristen."

Dass es keine einfachen Erklärungen gibt, zeigt auch das Beispiel von Samy Amimour, einem weiteren Attentäter der Konzerthalle "Bataclan". Aufgewachsen ist er in Drancy, nordöstlich von Paris. Doch im Gegensatz zu Mostefaï galt der 28-Jährige in seiner Jugend als gut integriert, bis auch er in den Extremismus abdriftete und seinen Job als Busfahrer kündigte. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Dabei hatte sein Vater noch versucht, ihn aus den Fängen des IS zu befreien, wie er im Dezember 2014 der Tageszeitung "Le Monde" berichtet hatte. Demnach reiste der 67-jährige Mohamed Amimour seinem Sohn in das syrische Bürgerkriegsgebiet nach, wo es ihm aber nicht gelang, ihn umzustimmen. Es sei ein "kaltes Wiedersehen" mit einem zu jeder Grausamkeit entschlossenen jungen Mann gewesen. Wie entschlossen, das hat er nun bewiesen.