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Sozialforschung im Himalaja

Von Harald Friedl

Wissen

In Bhutan wurde eine gesamtstaatliche Erhebung über das Wohlbefinden der Bevölkerung durchgeführt. Ein österreichisches Filmteam war mit dabei.


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Bhutan tickte schon immer etwas anders. Ängstlich darauf bedacht, nur ja keine fremden Einflüsse ins Land zu lassen, schottete sich das kleine Land im 20. Jahrhundert ab. Ringsum zerbrachen die veralteten Reiche. Tibet wurde von China, Sikkim von Indien annektiert. Mustang verlor die letzten Reste seiner Unabhängigkeit im Staate Nepal, und später tobte in Nepal ein Bürgerkrieg zwischen maoistischen Rebellen und dem Militär.

Wohlbefinden und Glück wachsen - nicht nur in Bhutan - auf einem feinen Geflecht aus materiellen und immateriellen Werten, auf einem ausgewogenen Verhältnis von Arbeit und Freizeit . . .
© Foto: thimfilm

Der Preis für die selbstgewählte Isolation Bhutans war Rückständigkeit. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. In den 1960ern begann sich das kleine Himalajaland vorsichtig zu öffnen. Der dritte König Jigme Dorje Wangchuck lehnte sich politisch an Indien an, weil der Nachbar im Süden Schutz vor China versprach. Er schränkte die Privilegien der buddhistischen Lamas ein, verlieh dem alteingesessenen Teil der auf britische Kolonialpolitik hin zugewanderten nepalesischen Minderheit Bürgerrechte und schuf die Leibeigenschaft ab.

Für Überraschung gut

Als Jigme Dorji 1972 starb, folgte ihm sein erst 16-jähriger Sohn nach. Auch Jigme Singye Wangchuck überraschte, als er, um eine alte Familienfehde zu beenden, alle Töchter des Erbfeindes heiratete. In fast jedem Haus hängt ein Bild des Königs mit seinen vier Ehefrauen. 1979 wurde er von einem indischen Journalisten auf die mageren Chancen für die Zukunft angesprochen, auf das geringe Bruttonationalprodukt seines Landes. Der König antwortete, dass es darauf doch nicht ankomme, es gehe um Gross National Happiness, das Bruttonationalglück. Damit war ein Begriff in die Welt gesetzt, der im Laufe der Jahrzehnte zum staatspolitischen Anspruch wurde, der Einzug in die Verfassung Bhutans hielt und zum vielleicht größten sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekt der Welt führte, zur gesamtstaatlichen Erhebung über das Wohlbefinden seiner Bewohnerinnen und Bewohner.

Manchmal hat man Glück. Freunde erzählten mir bei einem Abendessen von den Vorbereitungen zu einer Reise nach Bhutan. Da fiel der Begriff "Gross National Happiness". Einige Monate später war ich zum ersten Mal in der kleinen Hauptstadt Bhutans, Thimphu, und traf den Premier und zwei Minister in der mächtigen Klosterburg aus dem 17. Jahrhundert. Als ich dem Minister für Glück von meinem geplanten Film erzählte und erläuterte, dass nicht ich Bhutan erklären will, sondern Bhutan für sich selbst sprechen soll, da war er froh. Nicht aus Sorge über mögliche Kritik an seinem Land, sondern weil er Dokus voller Klischees über Bhutan schon satt hatte.

Wir sind auch nicht glücklicher als andere Menschen, betonte der Minister. Und so bekamen wir, Produzent Kurt Mayer und ich als Regisseur, als einzige Filmer weltweit die Möglichkeit, einen Film über die landesweite Erhebung des Bruttonationalglücks zu machen. Entstanden ist ein Roadmovie zum fernsten aller Ziele, dem Glück. Das Genre des Kinodokumentarfilms ist in Österreich stärker als anderswo vertreten. Es genießt die Freiheit, nicht nach allen Seiten Positionen abwägen zu müssen, sondern radikal subjektiv Beobachtungen wiedergeben und ihnen den wünschenswerten Atem gönnen zu können. Das Genre zwingt seinem Publikum keine Ansicht auf, es lässt es eigenständig fühlen. Damit wird die Welt zwar nicht vor voreiligen Schlüssen gerettet, aber es werden ihr Erfahrungsspielräume geschenkt.

Fünf Teamleaderinnen und Teamleader, darunter Frau Tshoki Zangmo und Herr Karma Wangdi, waren mit je einem Dutzend junger Assistentinnen und Assistenten im ganzen Land unterwegs. Ihre Reise zur Ermittlung des Glücks dauerte acht Monate und führte in alle Städte und Dörfer des Landes. Manche Orte liegen Tagesmärsche von jeder Straße entfernt. Über 7000 Menschen im Alter zwischen 15 und 94 Jahren wurden befragt - vom Computer nach Zufallskriterien ausgewählt.

Rund 1000 Fragen waren zu beantworten; die Beantwortung jedes Fragebogens dauerte mindestens drei Stunden. Entwickelt hat ihn ein internationaler Think Tank unter der Leitung des bhutanischen Dichters, Philosophen und Sozialwissenschafters Karma Ura. Sein Institut, das Zentrum für Bhutan Studien, hat alle Bereiches des Lebens erfasst: Materielles, Psychologisches, Soziales, Spirituelles. Es geht um Gesundheit, Familie und Gemeinschaft, Umwelt, Lebensstandard, Bildung, individuelle Werte, kulturelles Leben und um die Qualität von Politik und Verwaltung.

Dem Konzept des Bruttonationalglücks liegt die Philosophie des Buddhismus zugrunde, dass alle Säulen eines Daches - und dieses Dach steht für das Leben - gleich hoch sein müssen. Sind sie es nicht, fällt alles in sich zusammen. Wohlbefinden und Glück wachsen auf einem feinen Geflecht aus materiellen und immateriellen Werten, auf einem ausgewogenen Verhältnis von Arbeit und Freizeit. Kein Mensch ist für sich alleine glücklich. Und jeder wirkt mit am Glück der anderen.

Auch die USA haben den "Pursuit of Happiness" in einem ihrer kanonischen Texte, in der Unabhängigkeitserklärung von 1776, festgeschrieben. "Das Streben nach Glück" ist ein vom Staat geschütztes Recht, zu machen, was man will, solange es nicht die Freiheit und das Glück anderer gefährdet. Das Bruttonationalglück Bhutans will mehr. Es ist ein ganzheitliches Konzept, um die Bedingungen, in denen sich das Glück entfalten kann, zu gewährleisten und laufend zu verbessern. Alles wird im Kontext von Werten betrachtet. Development with values, Entwicklung auf der Basis ethischer Werte ist der Grundgedanke des Konzepts.

Riesiger Fragenkatalog

Gefragt wird: Fühlen Sie sich frei? Was würden Sie brauchen, um glücklich zu sein? Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Beruf, mit Ihren familiären Beziehungen? Leben Sie gerne? Sind Sie selbstsüchtig, neidisch, cholerisch? Haben Sie Fahrrad, Moped, Traktor, Auto? Haben Sie Schmerzen? Sind Sie traurig und enttäuscht? Fühlen Sie sich wertlos? Sind Sie großzügig oder eitel, empfinden Sie Mitgefühl mit Armen, mit Leidenden? Haben Sie Schulden? Können Sie Ihre Schwierigkeiten erfolgreich meistern? Fürchten Sie sich vor den Geistern Ihrer Ahnen? Haben Sie Angst vor dem Tod?

Persönliches wird mit Gesellschaftlichem, Ökologischem und Politischem verquickt. Auf wie viele Menschen können Sie sich im Notfall wirklich verlassen? Fühlen Sie sich respektiert? Gibt es Konflikte im Dorf, weil Ehemänner versuchen, mit den jungen Mädchen zu schlafen? Sind Männer und Frauen gleichberechtigt? Ist der Dorfrichter korrupt? Ist Ihre Umwelt sauber? Wie ist die Qualität Ihres Trinkwassers? Gibt es öffentliche Verkehrsmittel? Finanzielle und Jobprobleme werden genauso erhoben wie der Stress der Jugendlichen mit Schularbeiten oder die Sorgen der Eltern um die Zukunft ihrer Kinder.

Geht es fair zu im Lande? Fühlen Sie sich benachteiligt? Wenn ja, gegenüber wem? Wie glücklich fühlen Sie sich auf einer Skala zwischen Null bis Zehn? Null bedeutet, Sie sind unglücklich, Zehn bedeutet, Sie sind rundum glücklich. Nicht wenige Menschen hatten mit der Beantwortung dieser Frage Schwierigkeiten, weil sie es nicht gewohnt sind, in nummerischen Kategorien zu denken.

Die Ergebnisse dieser riesigen Fragebogenaktion sollen zeigen, wo die Entwicklung richtig und wo sie falsch läuft, welche ökonomischen, sozialen, ökologischen Veränderungen sich positiv auf das Leben auswirken und welche negativ. Infrastruktur ist sehr wichtig, speziell in einer so zerklüfteten Landschaft, in der 700.000 Menschen in vielen kleinen Nestern und schroffen Tälern verteilt leben. (Nirgendwo habe ich die Vorzüge der Mobiltelefonie stärker gespürt als auf 4000 Metern an der Grenze zu China).

Bhutan will seine Eigenständigkeit bewahren und sich fremdem Zugriff entziehen. Finanzkrise? Nicht in Bhutan! Ausverkauf der Ressourcen? Mehr als die Hälfte des Landes steht unter Naturschutz. Bhutan will nur so viele Fernreisende im Land haben, wie es aus eigener Kraft einfliegen, transportieren, beherbergen und versorgen kann. 2010 waren das weniger als 30.000. Der Flugverkehr war bis vor kurzem ein Monopol der heimischen Druk Air, internationale Hotelkonzerne werden abgelehnt. Erst 1999 kamen Fernsehen und Internet, einige Jahre später Mobiltelefonie.

Als sich McDonald’s um eine Niederlassungsgenehmigung bemühte, gab es monatelang Diskussionen über die fleischlastige Schnellküche. Big Mac musste draußen bleiben. Der Import von Plastik ist beschränkt. Als der Verkehrspolizist der einzigen geregelten Kreuzung des Landes durch eine Ampel ersetzt wurde, tobten Proteste. Die Ampel wurde abmontiert, die Polizei kehrte zurück. Nun regeln wieder Beamte mit eleganten Armbewegungen den Verkehr. Ihre Choreographien sind eine Attraktion in der Hauptstadt. Die Berggipfel des Landes zu besteigen, ist nach wie vor verboten. Denn wo die Geister der Natur regieren, muss Sportsgeist Abstand halten.

Goldenes Zeitalter

Auch ohne Erlöse aus einem Ausverkauf des Landes erlebt Bhutan so etwas wie ein Goldenes Zeitalter. Strom aus Wasserkraft bringt viel Geld aus Indien. Noch gibt es Entwicklungshilfe aus dem Ausland. Bhutan sucht sich selbst aus, wer helfen darf: nur kleine Länder ohne Hegemonialansprüche, wie etwa Österreich, Schweiz, Dänemark. In allen Regionen werden Krankenhäuser gebaut; Österreich finanzierte eine Tourismusschule und Wasserprojekte. Bis 2014 soll es in jedem Dorf Elektrizität geben. Gesellschaftlich wird Bhutan liberaler, die Kampagne gegen Analphabetismus zeigt Wirkung. Noch bieten die alten Traditionen Halt und Identifikation, noch nimmt die Landflucht nicht überhand. Und sogar jene Privilegierten, die im Ausland studieren, in Kanada, der Schweiz und Österreich, kehren nach Ende ihrer Ausbildung nach Hause zurück.

Wenn man in gesellschaftlichen Dimensionen denkt, hat Bruttonationalglück sehr viel mit persönlichem Glück zu tun. Individualismus ist wunderbar. Das westliche Gesellschaftsmodell scheint in seiner progressiven Individualisierung und Diversifikation aber immer weniger an verbindenden Identifikationsflächen zu bieten. Und manchmal scheint es, der gemeinsame Nenner wäre nur noch in den Flüssen seiner Netzwerke zu finden, dem Internet, dem Straßennetz, dem Geldumlauf.

Daran will Bhutan durchaus teilhaben, aber ohne seine Seele zu verkaufen. Ob das gelingen kann, wird sich zeigen.

Zur Person
Harald Friedl, geboren 1958 in Steyr, ist Filmemacher, Autor, Musiker und lebt in Wien und Mitterretzbach (NÖ). Filme (Auswahl): "Aus der Zeit" (2006), "So schaut’s aus. G’schichten vom Willi Resetarits" (2008). "What Happiness Is", der Film über Bhutan, läuft am 21. Dezember in den Kinos an.