Zum Hauptinhalt springen

Sozialhilfe statt Mindestsicherung

Von Marina Delcheva

Politik

Der Nationalrat beschließt neues Mindestsicherungsgesetz, das auch durch Sanktionen Arbeitsanreize schaffen soll.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Die Mindestsicherung soll wieder Sozialhilfe heißen. Am Donnerstag beschließt der Nationalrat mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ die umstrittene Mindestsicherungsreform. Das neue Rahmengesetz sieht eine Höchstsumme in der Höhe des Netto-Ausgleichszulagenrichtsatzes vor, das wären 885,47 Euro für 2019. Paare bekommen künftig höchstens 1.239,66 Euro. Die Mindestsicherung kostet den Staat knapp eine Milliarde Euro. Einsparungen sind durch die Reform laut Sozialministerium nicht zu erwarten.

Die geplanten Kürzungen sollen vor allem anerkannte Flüchtlinge und ausländische Staatsbürger treffen. So können jederzeit 300 Euro abgezogen werden, wenn die Bezieher keine Deutschkenntnisse auf B1 oder Englischkenntnisse auf C1 vorweisen können. Außerdem werden alle Zuschläge ab dem dritten Kind mit 43 Euro gedeckelt. Die Länder dürfen einen Wohnzuschlag von höchstens 30 Prozent gewähren. Beim Vermögenszugriff gibt es aber eine leichte Entschärfung. Man darf künftig das Auto und ein Vermögen von rund 5300 Euro behalten. Die Schonfrist für den Zugriff auf das Eigenheim wird von sechs Monate auf drei Jahre verlängert. Anders als bisher geplant, sollen Spenden und Heizkostenzuschüssen doch nicht vom Bezug abgezogen werden.

Sanktionen oft wirkungslos

Eines der Hauptziele all dieser Änderungen ist es, die Arbeitsbereitschaft der Mindestsicherungsbezieher zu erhöhen und diese schneller in Beschäftigung zu bringen. Führt eine Deckelung bei den Bezügen und Sanktionen bei mangelnden Deutschkenntnissen gleich zu einer höheren Arbeitsbereitschaft? Die Empirie sagt dazu: "Jein." Gekürzte Sozialleistungen und Arbeitslosengeld erhöhen zwar den Druck auf die Betroffenen, möglichst schnell einen Job zu finden. Dass sie aber deswegen tatsächlich schneller in Beschäftigung kommen, ist unwahrscheinlich.

"Die Anreizfunktion der Kürzungen sehe ich nicht", sagt Bettina Leibetseder, Professorin für Politikwissenschaft an der Hochschule Landshut in Deutschland, die zu Mindestsicherungssystemen forschte. Für viele Mindestsicherungsbezieher ist es auch ohne der geplanten Kürzung schwer, einen Job zu finden, "weil sie nicht genügend Deutsch sprechen oder zu wenig qualifiziert sind".

Die Mindestsicherung wurde 2010 als Nachfolgerin der damaligen Sozialhilfe eingeführt und hatte die Abwägung zwischen Existenzsicherung und Jobanreiz zum Ziel. "Das Ziel der Existenzsicherung in der Mindestsicherung wird für Familien und Menschen mit geringen Deutschkenntnissen gar nicht mehr erfüllt", sagt Leibetseder.

Eine Wifo-Studie hat 2017 die Folgen der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf die Jobaufnahme untersucht: Wenn man die Bezugsdauer von 39 auf 52 Wochen erhöht, verlängert sich die Dauer des Leistungsbezugs um rund zwei Wochen. "Keine signifikante Veränderung ist jedoch für die Dauer bis zur Aufnahme einer Beschäftigung nachweisbar: Der längere Anspruch auf Arbeitslosengeld führt nicht zu einer Verzögerung von Jobaufnahmen", schreiben die Studienautoren.

Das liege daran, dass der Großteil der Jobsuchenden ohnehin motiviert sei, möglichst schnell wieder eine Beschäftigung zu finden. Außerdem wirken die negativen Folgen einer längeren Arbeitslosigkeit abschreckend. Positive Anreize verkürzen die Jobsuche hingegen, so die Studie.

Leibetseder meint, es sei nachhaltiger, in Weiterbildungsangebote und Deutschkurse zu investieren. Weiterbildungsmaßnahmen hätten einen stärkeren Effekt auf die Jobaufnahme als Kürzungen und Sanktionen. Solche Weiterbildungsmaßnahmen kosten jedoch Geld.

Zwei Drittel nicht arbeitsfähig

Zurück zu den Mindestsicherungsbeziehern. Wie viele von den geplanten Änderungen betroffen sind, ist noch unklar. Zumal viele Kürzungen im Ermessen der zuständigen Beamten liegen. Darunter könnten auch österreichische Staatsbürger fallen, die keinen Pflichtschulabschluss und damit einen Nachweis entsprechender Deutschkenntnisse haben, wie die "Wiener Zeitung" berichtete. Aus dem Sozialministerium heißt es, dass diese Gruppe nicht sanktioniert werde.

Laut Statistik Austria bezogen 2017 mehr als 230.000 Menschen österreichweit Mindestsicherung. Aktuellere, bundesweite Zahlen gibt es nicht, weil die Länder die Daten zeitverzögert und oft lückenhaft melden. Das soll sich übrigens mit dem neuen Gesetz ändern, das eine Berichtspflicht der Länder gegenüber der Statistik Austria vorsieht.

Nur ein Teil dieser Mindestsicherungsbezieher steht tatsächlich dem Arbeitsmarkt dauerhaft zur Verfügung. Berechnungen der der Diakonie zufolge sind zwei Drittel der Mindestsicherungsbezieher Pensionisten, Kranke oder Menschen mit Behinderung und sogenannte Aufstocker - also jene, die im Job zu wenig verdienen und durch einen Zuschuss auf die Höhe der Mindestsicherung aufstocken. 83.818 Minderjährige leben in Haushalten mit Mindestsicherung. Das sind zum überwiegenden Teil Kinder, die noch schulpflichtig sind und naturgemäß nicht arbeiten dürfen.

Tatsächlich sind mit Stand März 2019 österreichweit 41.193 Mindestsicherungsbezieher beim AMS als jobsuchend gemeldet. Dazu zählen sowohl Vollbezieher als auch Menschen, die ein zu geringes Arbeitslosengeld beziehen und aufstocken. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen sind ausländische Staatsbürger. Über 25.000 haben höchstens einen Pflichtschulabschluss. Beide Gruppen sind überdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit betroffen und finden auch schwieriger einen Job. So haben die knapp die Hälfte der Arbeitslosen höchstens einen Pflichtschulabschluss.

Willst du diesen Inhalt sehen? Gib den anderen Cookies grünes Licht.

Wiener Zeitung Logo

Cookie Einstellungen

Ohne Cookies funktioniert die Website wienerzeitung.at nur eingeschränkt. Für eine sichere und einwandfreie Nutzung unserer Website werden daher technisch notwendige Cookies verwendet. Für die Darstellung von Inhalten von Drittanbietern (YouTube und APA) werden Session-Cookies gesetzt. Bei diesen kann eine Datenübermittlung in ein Drittland stattfinden. Ihre Einwilligung zur Setzung genannter Cookies können Sie jederzeit unter "Cookie Einstellungen" am Seitenende widerrufen oder ändern. Nähere Informationen zu den verwendeten Cookies finden sich in unserer Datenschutzerklärung und in unserer Cookie-Policy.

Technisch notwendig
Youtube
Andere