Zum Hauptinhalt springen

Sozialpolitik mit Ausblendungen

Von Emmerich Tálos

Politik

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

War im Programm aus 2000 die gesellschaftspolitische Grundposition der ÖVP-FPÖ-Koalition relativ klar umschrieben, so finden sich im neuen Regierungsprogramm im Wesentlichen nur Details zu sozialpolitischen Vorhaben. Im Blickpunkt dabei stehen neben Familie vor allem die Pensions- und Arbeitslosenversicherung.

Das Regierungsprogramm macht diesbezüglich einiges klar, so beispielsweise, dass das Pensionssystem vereinheitlicht, der Durchrechnungszeitraum erweitert und die Frühpensionen abgeschafft werden - Leistungskürzung ist durchgängig angesagt. Beträchtlich negative Auswirkungen für die Betroffenen brächte die angepeilte Verlagerung der Notstandshilfe in die Sozialhilfe mit sich: weniger Geld, weniger Rechtssicherheit, mehr Stigmatisierung - Verarmung ist damit vorprogrammiert.

Einiges im Programm ist äußerst vage formuliert bzw. nicht nachvollziehbar: Was soll es mit dem Ziel der Vollbeschäftigung auf sich haben, wenn sich Hinweise auf Wege dazu in die lichten Höhen der Unverbindlichkeit und Abstraktion flüchten? Über die Entlastung des Faktors Arbeit gibt es breiten Konsens, nur vermag die Regierung nicht nachvollziehbar anzugeben, wie es geht, wenn der Finanzierungsmodus - nämlich die Anbindung des Unternehmensbeitrages an die Lohnsumme, der im 19. Jahrhundert vielleicht tauglich war - unverändert in die rationalisierte Wirtschaftswelt des 21. Jahrhunderts fortgeschrieben wird.

Bedeutet der angekündigte weitere Ausbau der betrieblichen und individuellen Altersvorsorge, dass das traditionelle Ziel der Lebensstandardsicherung "unter der Hand" aufgegeben wird?

Das Regierungsprogramm blendet gesellschaftspolitisch wichtige Aspekte vollends aus. Weder kommen die mit atypischer Beschäftigung verbundenen Probleme der materiellen und sozialen Absicherung in den Blick, noch kennt das Programm den Begriff Armut: Dies ungeachtet dessen, dass auch der fast zeitgleich erschienene Sozialbericht untermauert: Teilzeitbeschäftigung und befristete Beschäftigung gehen mit großen Problemen der Einkommenssicherung einher - das Armutsrisiko ist doppelt bzw. dreifach höher, als bei einer kontinuierlichen und vollzeitigen Beschäftigung. Auch in einem so reichen Land wie Österreich ist die Zahl armer Menschen beachtlich. Armut heißt, enorm eingeschränkte materielle Teilhabe, Armut grenzt sozial aus, Armut macht kränker.

Der Handlungsbedarf ist unübersehbar. Im Regierungsprogramm findet sich allerdings dazu keine Erwähnung. Wer Probleme nicht sieht oder nicht sehen will, überlegt auch keine Strategie. Dabei fehlt es nicht an Modellen und Wegen, die gesellschaftspolitisch diskussionswürdig sind - wie beispielsweise die bedarfsorientierte Grundsicherung: Mit der Einführung von Mindeststandards und der Erweiterung der Zugänge zum Leistungssystem im Fall ökonomischer Notlage könnte das bestehende System sozialer Sicherung "armutsfest" gemacht werden. Ob dies geschieht, ist vor allem auch eine Frage der politischen Prioritäten. Allerdings nicht für das aktuelle Regierungsprogramm.

Emmerich Tálos ist Universitätsprofessor für Politikwissenschaften an der Universität Wien