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Soziologie als Leitwissenschaft

Von Bernhard Hofer und Bernhard Martin

Gastkommentare

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Welche empirische Wissenschaft, wenn nicht die Soziologie, analysiert und hinterfragt gesellschaftliche Entwicklungen auf Mikro- und Makroebene sowie auf der zwischen diesen vermittelnden Mesoebene und berücksichtigt dabei Daten und Erkenntnisse auch aus Nachbardisziplinen?

Die von Gerald Schmickl in der "extra"-Wochenendbeilage der "Wiener Zeitung" vom 8./9. April beschriebene Debatte über die ungerechtfertigte Ungleichverteilung von zu vielen Ökonomen und zu wenigen Soziologen in den Beraterstäben von Politikern und in Think Tanks ist nicht nur auf die USA beschränkt. Auch hierzulande herrscht ein solches Ungleichgewicht - mit der Folge, dass die Politik des Reparierens die Politik des Gestaltens unterdrückt, weil bloße Zahlengläubigkeit dominiert und evidenzbasierte Sozialfolgenabschätzung in der Legistik unberücksichtigt bleibt.

In der jüngsten Ausgabe des Fachmagazins "soziologie heute" bringt es der Soziologe Walter Hollstein auf den Punkt: "Die politische Diskussion hat sich in den letzten Jahren pervertiert: Während Fragen, die die Massen betreffen, allenfalls noch peripher angestoßen werden, stehen im Vordergrund einigermaßen abseitige Themen für verschwindend geringe Minderheiten." In der politischen Praxis scheint die Perspektive für Proportionen verloren gegangen zu sein.

Als Wissenschafter sind sich Soziologen ihrer besonderen Verantwortung und Rolle bewusst. Auch als Forscher und Berater analysieren sie die Gesellschaft, im Bewusstsein, selbst ein Teil davon zu sein. Sie hinterfragen eingefahrene Denkmuster, reflektieren, interpretieren und nähern sich ihren Untersuchungsgegenständen ebenso hermeneutisch wie mittels empirischer Daten an.

Gesellschaftliche Praktiker und Mitgestalter der Gesellschaft

Schmickl hat recht, wenn er die Befindlichkeit der Soziologen vor 20 Jahren mit jener von heute vergleicht: Es herrscht Aufbruchsstimmung. Soziologen engagieren sich heute vermehrt in zahlreichen unterschiedlichen Berufsfeldern wie Bildung, Wirtschaft, Kultur, Religion, Gesundheit und Sozialem. Der Berufsverband der Soziologinnen und Soziologen Österreichs vertritt die Interessen und Anliegen dieser gesellschaftlichen Praktiker und betont insbesondere auch deren Rolle als verantwortliche Mitgestalter unserer Gesellschaft. Die vielfältige Präsenz von Soziologen in allen gesellschaftlichen Bereichen und die damit verbundenen Betrachtungsmöglichkeiten auf der Mikro-, Makro- und auch der Mesoebene sind es, welche die Soziologie gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche zur Leitwissenschaft prädestinieren.

Dass dieser Anspruch der Soziologie Querschüsse aus weniger breit orientierten Disziplinen zeitigt, die aber gleichzeitig von der Soziologie theoretische Erkenntnisse und Methoden der empirischen Sozialforschung übernehmen, ist in der akademischen Welt nicht neu. Neu ist allerdings, dass aufgrund allgemein wachsender Krisenhaftigkeit in der Welt nun seitens qualifizierter Massenmedien - nicht nur der "Wiener Zeitung" - vermehrt an die soziologische Deutungshoheit über Phänomene in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft erinnert wird.