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Spagat zwischen national oder europäisch

Von Alexander Dworzak

Politik

Massenmigration in die EU wie 2015 ist nicht in Sicht. Das größte Problem besteht bei angekommenen Asylwerbern.


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Wien/Berlin/Brüssel. "Unser Ziel muss sein, die illegale Migration so weit wie möglich zu stoppen." Dieses Zitat stammt nicht von Horst Seehofer oder einem anderen CSU-Politiker, der mit Angela Merkel ob ihrer Flüchtlingspolitik im Clinch liegt. Sondern von der deutschen Kanzlerin selbst, die ihrem Satz die Forderung nach einem stärkeren EU-Außengrenzschutz folgen ließ. Getätigt hat Merkel diese Äußerungen nicht dieser Tage. Sondern 2016.

In jenem Jahr erreichte die Zahl der Erstanträge auf Asyl ihren Höchststand. 1,2 Millionen waren es in der gesamten EU. Davon entfielen mehr als 720.000 Personen auf Deutschland, in Österreich waren es knapp 40.000. Von diesen Zahlen ist Europa aktuell meilenweit entfernt, 2017 wurden in der EU um 46 Prozent weniger Asyl-Erstanträge als im Jahr zuvor gezählt. Maßgeblichen Anteil daran hatten der Flüchtlingsdeal mit der Türkei sowie die Schließung der sogenannten Balkanroute. Und auch die bisher für 2018 vorhandenen Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Von Jänner bis März waren es nochmals 29 Prozent weniger Anträge als in den ersten drei Monaten des Vorjahres.

"Null Beweise"

Italien etwa, dessen neue Regierung öffentlichkeitswirksam dem Rettungsschiff "Aquarius" verbot, einen italienischen Hafen anzulaufen, verzeichnete von Jänner bis April rund 9400 Bootsflüchtlinge - um 27.000 Personen weniger als im Vorjahreszeitraum.

Auch die Furcht vor einer neuen Balkanroute über Albanien und Bosnien-Herzegowina in das EU-Land Kroatien deckt sich bisher nicht mit den Statistiken, auch wenn mehr Personen als im Vorjahr gezählt wurden. Bis Ende Mai wurden in Bosnien 5116 illegal eingereiste Menschen registriert. In Albanien sind es je nach Quelle 2000 bis 2400 Personen. Für eine "Flüchtlingswelle" sieht daher Erion Veliaj, Bürgermeister der Hauptstadt Tirana, "null Beweise". Eine Wiederholung von 2015 und 2016 ist derzeit also nicht in Sicht, eben weil quer durch Europa der Kurwechsel stattgefunden hat. Die CSU suggeriert nun jedoch, es gebe ein "Weiter so".

Die drängende Frage lautet aber, wie mit bereits angekommenen Asylwerbern verfahren werden soll. Nationale und europäische Perspektive gehen dabei auseinander. Innenminister Seehofer trifft aus nationaler Sicht einen Nerv mit seiner Forderung, Personen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert worden sind, müssten an der Grenze zurückgewiesen werden. Schließlich fielen darunter fast 42.000 der 198.000 Asyl-Erstantragsteller im Jahr 2017. Abgeschoben wurden aber nur 7000. Die Gründe reichen von Untertauchen über Verzögerungen durch Klagen bis dahin, dass erstregistrierende Staaten die Rücknahme verweigern.

Die Sonderstellung der CSU

Seehofer baut mit seiner Initiative wiederum europäischen Druck auf, Länder mit EU-Außengrenzen wie Griechenland sind die schwächsten Glieder in der Kette. Griechenland wiederum könnte Druck zurückspielen, indem es die Registrierung schlicht einstellt. Die jeweiligen Nachbarstaaten würden gleichziehen und die Asylsuchenden gen Deutschland durchlassen. Insofern ist Merkels Weigerung nachvollziehbar. Die Nicht-Registrierung wäre tatsächlich eine Rückkehr ins Jahr 2015.

Bloß holen sich Politiker ihre Legitimation über nationale Wahlen. Nicht umsonst hinkt die Rolle von EU-Wahlen hinterher. Allen Reden über Europas Einheit zum Trotz, lassen sich gerade bei Migrationsfragen Wahlen durch Abschottungskurse eher gewinnen. Hinzu kommt, dass Seehofer primär regional denkt. Erfolge der CSU bei Landtagswahlen sind die Existenzgrundlage für ihre Sonderstellung im deutschen Parteienspektrum und die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU in Berlin.

Die Warnungen und Drohungen vor deren Auflösung halten CDU und CSU derweil aufrecht. Nach jedem kleinen Indiz für oder gegen das Ende der Fraktionsgemeinschaft wird derzeit gesucht. Das Satire-Magazin "Titanic" hat sich die Nervosität bereits zunutze gemacht und auf Twitter unter der gefälschten Absenderadresse des Hessischen Rundfunks das Aus der Union verbreitet. Sogar der Euro-Kurs schlug ob der Falschmeldung aus.

Tatsächlich werden die beiden Parteien über das Wochenende intensiv verhandeln, ob doch noch ein Kompromiss möglich ist. Für Montag ist eine CSU-Vorstandssitzung angesagt, bei der sich Seehofer Rückendeckung für einen Alleingang im Bund holen will. Er bezichtigte am Freitag die CDU, diese habe "mit der Flüchtlingsentscheidung 2015 die Spaltung Europas herbeigeführt". Unternimmt die CSU nun, was sie Merkel seit damals vorgehalten hat: einen Alleingang?

Ob die CSU tatsächlich das Ende der Fraktionsgemeinschaft und Neuwahlen riskiert, muss sich erst zeigen. Ein erneuter Urnengang in der so fragilen Situation Europas käme zur Unzeit. Zum Brexit hat sich mit der Unsicherheit über den Euro-Kurs der neuen italienischen Regierung ein zweites großes Problem gesellt.

Stillstand bei Abschiebungen

Ihr Beharren begründet die CSU damit, dass die Stimmung zu kippen drohe angesichts der Affäre im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf): 1200 Asylanträge sollen in der Bremer Außenstelle unrechtmäßig bewilligt worden sein. Als Innenminister ist Seehofer zuständig. Bamf-Chefin Jutta Cordt wird abgelöst, wie am Freitagabend bekannt wurde. Zur Bamf-Affäre kam die Erschütterung über den Fall Susanna: Die 14-Jährige wurde vom 20-jährigen Iraker Ali B. ermordet. Dieser hatte 2016 gegen die Ablehnung seines Asylantrags geklagt.

Konsequentere Abschiebungen abgelehnter Asylwerber fordern die Bürger zuallererst in der Flüchtlingspolitik. 86 Prozent wünschen sich dies laut ARD-Deutschlandtrend. Doch genau da stocken die Maßnahmen. Das liegt nicht nur an Herkunftsstaaten, die ihre Bürger nicht zurücknehmen. Deutsche Bundesländer, in denen Grüne und Linkspartei mitregieren, blockieren bei einer Ausweitung der "sicheren Herkunftsstaaten", in die leichter abgeschoben werden kann. Bei manchen Themen sind nationale Änderungen noch schwieriger als europäische Lösungen.