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Spaltung als Chance

Von Walter Hämmerle

Politik
Russische Einkreisungsobsessionen: Herfried Münkler.
© Andy Urban

Europa muss sich zur Verantwortung für seine Peripherie bekennen.


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"Wiener Zeitung": Herr Münkler, Ihre neue Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs wird von Kritikern hochgelobt. Welche Lektionen können Europas heutige Politiker aus diesen Ereignissen ziehen?Herfried Münkler: Erstens, der Kampf zwischen Frankreich und Deutschland um die Hegemonie im Zentrum Europas ist zu Ende. Stattdessen gibt es die deutsch-französische Achse - und solange diese funktioniert, wird auch Europa funktionieren trotz aller Probleme und Schwierigkeiten. Die zweite, mindestens so wichtige Lektion ist die Aufgabe, sich um die Peripherie zu kümmern. Diese Randgebiete bestehen nicht allein aus dem Balkan und der Ukraine, sondern reichen vom Kaukasus über den Nahen Osten und Ägypten bis Marokko. Um es deutlich zu sagen: Die große Verwundbarkeit Europas im 21. Jahrhundert wird nicht darin bestehen, dass irgendwelche Panzerdivisionen unsere Grenzen überqueren, sondern dass Flüchtlingsströme hereindrängen. Diese werden unsere verwundbarste Stelle treffen: unsere Sozialsysteme. Dieser Druck wird dazu führen, dass wir uns in einem unauflösbaren Konflikt zwischen unseren Sozialsystemen und unserem moralischen Selbstbild befinden, weil wir nicht auf Dauer zuschauen können, wenn Flüchtlingsboote vor unseren Grenzen abgewimmelt werden oder gar sterben.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, in die Stabilität unserer Peripherien zu investieren - politisch, aber auch wirtschaftlich und schließlich wohl auch mit Finanztransfers.

Die Verpflichtung der Union, in diese Regionen zu investieren, ist unbestritten. Die Frage ist, wie mit divergierenden Interessen Dritter umzugehen ist, etwa mit Russlands Anspruch auf die Krim als strategischen Brückenkopf im Schwarzen Meer. Diesen Anspruch zu akzeptieren, macht einen Beitritt der Ukraine zur EU unmöglich. Die Alternative ist die Spaltung . . .

Darauf wird es jetzt wohl hinauslaufen, ich rechne jedenfalls mit einer dauerhaften Abspaltung der Krim von der Ukraine. Offen ist nur noch, wie sich das auf die Regionen östlich des Flusses Dnjepr entwickelt.

Mit der Angliederung der Krim setzt Moskau einen riskanten Präzedenzfall, der langfristig die staatliche Integrität Russlands angesichts seiner zahlreichen nationalen Minderheiten gefährden kann.

Ja, das stimmt, aber die Russen - und das verbindet das Jahr 2014 mit 1914 - werden getrieben von Einkreisungsobsessionen und Wiederkehrängsten. Die Wiederkehrängste sind zwar aktuell ein bisschen gemildert aufgrund des gestiegenen Gaspreises, der dem Prinzip der Stabilität Putins zugute gekommen ist. Aber die Einkreisungsobsessionen sind unvermindert da. Im konkreten Fall haben die Russen Panik davor, dass die Ukraine ein weiteres Glacis des Westens werden könnte, so wie es zuvor schon mit den ehemaligen Ostblockstaaten oder dem Baltikum gekommen ist, die heute allesamt EU- und Nato-Mitglieder sind.

Agiert der Westen als Einheit in dieser Krise?

Nein, man muss hier zwischen der Union und den USA unterscheiden, beide verfolgen unterschiedliche Interessen. Ohne die Amerikaner wäre es für Europa vermutlich einfacher, die aktuelle Krise mit Russland auszuverhandeln; dabei wäre wahrscheinlich der Bundesrepublik eine herausragende Stellung zugekommen. Die USA spielen dagegen ein bisschen ein anderes Spiel; hinzu kommt, dass sie der Favorit der europäischen Frontstaaten gegen Russland sind, die aus historisch nachvollziehbaren Gründen Angst vor Moskau haben. Etliche Staaten, etwa im Baltikum haben darüber hinaus auch noch eigene russische Minderheiten.

Worin besteht der Unterschied zwischen den Interessen der USA und der EU?

Die Europäer und die Russen verhandeln miteinander über eine regionale Ordnung, die Amerikaner haben dagegen eine globale Perspektive, das macht das Spiel so schwierig und so anstrengend. Die Europäer müssen sich nicht nur auf den schwierigen, undurchsichtigen und auf sein Macho-Image bedachten Putin konzentrieren, sondern auch mitunter noch ein Auge auf die USA haben und diese bremsen, wenn sie wieder einmal versuchen, durch gezielte Maßnahmen Russland zu destabilisieren.

Bedeutet eine dauerhafte Abspaltung der Krim, dass die restliche Ukraine Teil des Westens wird?

Vermutlich ja, zumindest jener Teil der Ukraine, der bis zum Dnjepr reicht.

Und Russland würde sich damit abfinden?

Es wäre auf jeden Fall eine Lösung, welche die Konfliktzonen zwischen Russland und dem Westen minimiert. Für die Menschen hätte das den Vorteil, dass endlich klar ist, zu welcher Wohlstandszone sie gehören. Und eine solche Lösung würde auch die Ukraine stabilisieren, die ja offensichtlich über kein starkes Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit verfügt, wie die Geschichte seit der Unabhängigkeit 1991 gezeigt hat. Die Grenze, die durch die Ukraine verläuft, entspricht jener Grenze, die auch Europa teilt: der katholische Westen mit seinen historischen Verbindungen zum Habsburger Reich und Polen; der orthodoxe Osten mit den Banden zu Russland. Diese Unterschiede hätten vielleicht überbrückt werden können, wenn die Ukraine Zeit und Ruhe gehabt hätte. Doch das Land war zwischen den Mächten hin- und hergerissen. Das Land war auch nicht stark und gefestigt genug zu sagen: "Wir sind ein eigenständiger Staat in einer Zwischenlage." Für eine solche skandinavische Lösung fehlte es an Selbstbewusstsein und Geschlossenheit.

Ohne eine solche Klärung der Lage sehe ich keine Möglichkeit, wie sich die prekäre Region zwischen Europa und Russland wirtschaftlich und sozial stabilisieren könnte. Zumal sich ja auch die Idee erledigt hat, Russland könnte irgendwann Teil des europäischen Wirtschaftsraumes werden. Strukturell entsprechen die Russen ja eher in einem Dritte-Welt-Land, das auf die Kapitalisierung seiner Bodenschätze angewiesen ist.

Zur Person

Herfried Münkler, geboren 1951, ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Derzeit ist sein jüngstes Buch "Der Große Krieg. Die Welt 1914 -1918" (Rowohlt) in aller Munde. Münkler war auf Einladung des Bruno Kreisky-Forums in Wien.