Zum Hauptinhalt springen

Spannend wird's nach der Wahl

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre

Politik

Im Foyer des Sheraton-Hotels von Porto Alegre ist die Skepsis mit Händen zu greifen. "Lula und die PT kommen mir ein wenig vor wie die Außerirdischen im Film ,Signs'", sagt ein Mittelständler aus der Elektronikbranche. "Ich weiß noch nicht so recht, ob sie Gutes oder Böses im Schilde führen."


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Mit ihm warten die Schwergewichte der einheimischen Unternehmerschaft auf ein Arbeitsfrühstück mit Luiz Inácio da Silva, den die Brasilianer nur "Lula" nennen. Der 57-jährige Ex-Gewerkschafter und Ehrenpräsident der Arbeiterpartei PT möchte nach vergeblichen Anläufen 1989, 1994 und 1998 endlich brasilianischer Präsident werden.

Diesmal dürfte es klappen: Die brasilianische Linke steht vor einem historischen Triumph. Wenige Tage vor der Stichwahl um die Präsidentschaft liegt Lula klar in Front. Sämtliche Umfragen sagen ihm doppelt so viele Stimmen voraus wie seinem Kontrahenten aus dem Regierungslager, dem früheren Gesundheitsminister José Serra. Damit hat sich das Kräfteverhältnis der ersten Runde stabilisiert: Am 6. Oktober hatte Lula 46,4 Prozent der gültigen Stimmen erhalten, Serra nur 23,2.

Parallel dazu legte die Arbeiterpartei bei den Kongress- und Gouverneurswahlen kräftig zu. Im Abgeordnetenhaus stellt sie mit 91 statt bisher 58 Sitzen erstmals die größte Fraktion. Auf linke und linksliberale Parteien entfallen rund ein Drittel der 513 Mandate. Von 81 Senatoren gehören nun 14 der statt bisher acht der PT an. Bei den Gouverneurswahlen in den 27 Bundesstaaten siegten zwei PT-Bewerber im ersten Durchgang, acht weitere gelangten in die Stichwahl - vor vier Jahren hatten lediglich drei "petistas" gesiegt.

Weder die monatelangen Turbulenzen auf den Finanzmärkten, wo die Landeswährung Real in diesem Jahr um 40 Prozent einbrach, noch die zunehmend verzweifelten Attacken Serras vermochten Lula etwas anzuhaben. Denn der hielt unerschütterlich an seiner langfristig vorbereiteten Wahlkampfstrategie fest, "kein 30-Prozent-Kandidat, kein ideologisierter Lula mehr zu sein," wie er kürzlich noch einmal unterstrich. So wurde der millionenschwere Textilunternehmer José Alencar von der kleinen Liberalen Partei PL zum Vize erkoren. Mit solchen Gesten und staatsmännisch moderaten Tönen überzeugte Lula schließlich nicht nur große Teile der nationalen Unternehmerschaft, sondern auch den IWF davon, dass ein Bruch mit dem System nicht auf der Tagesordnung steht.

Meinungsumschwung bei der Industrie

Zwar würden die meisten Banker und Industriellen lieber Serra als Präsidenten sehen. Doch die frühere Feindseligkeit gegenüber Lula ist einem vorsichtigen Optimismus gewichen. "Viele meiner Kollegen hoffen auf eine Stärkung der Binnenwirtschaft," sagt André Meyer da Silva, dessen Firma Getreidelademaschinen herstellt. "Ich glaube, nach der Wahl wird Lula weiter versuchen, die Märkte zu beruhigen. In einem halben Jahr wissen wir, wohin der Hase läuft."

Tatsache ist: Nach einem Jahrzehnt neoliberaler Reformen hat sich die Stimmung im größten Land Lateinamerikas gründlich gewandelt. Präsident Fernando Henrique Cardoso, der sich zweimal als Garant einer stabilen Währung gegen Lula durchgesetzt hatte und eine Mitte-Rechts-Regeirung bildete, bekommt nun mehr schlechte als gute Noten.

Der Internationale Währungsfonds verordnete eine Hochzinspolitik, durch die zwar ausländisches Finanzkapital geködert, aber der einheimischen Industrie der Geldhahn abgedreht wurde. Zugleich wuchs die Staatsverschuldung auf über 230 Mrd. Dollar oder 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - im Dezember 1994 war dieser Anteil noch halb so hoch. Bei einer Gesamtbevölkerung von 175 Millionen leben über 50 Millionen Menschen in Armut, 12 Millionen sind arbeitslos.

Cordoso hinterlässt ein schweres Wirtschaftserbe

Auch im vergleichsweise wohlhabenden Süden des Landes ist der Überlebenskampf härter geworden. "Das Geld reicht hinten und vorne nicht mehr," klagt die Verkäuferin Tereza Fernandes aus Porto Alegre, die gerade einmal 100 Euro im Monat verdient. Ihr Mann hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, ihre zwei halbwüchsigen Söhne suchen vergeblich nach Arbeit. Die Kleinkriminalität in ihrem Viertel steigt. Zustände wie in Rio de Janeiro, wo die Drogenmafia die ganze Stadt in Atem hält, mag sich die 40-Jährige zwar noch nicht vorstellen. Aber wenn ihre Söhne ausgehen, hat sie Angst. Ebenso wie die meisten ihrer Nachbarn wird sie erneut Lula wählen, von dem sie sich "Arbeit und bessere Schulen" wünscht.

Auch wenn Lula einen "neuen Sozialpakt" verspricht: Er wird es kaum allen recht machen können, denn die Kassen sind leer und die Wirtschaft lahmt. Auf den Punkt bringt das Dilemma der Linksliberale Ciro Gomes, der in der ersten Runde auf Platz vier gelandet war und nun "bedingungslos und begeistert" für Lula Partei ergriffen hat: "Das Risiko lautet De la Rúa," meint Gomes in Anspielung auf das Scheitern des früheren argentinischen Präsidenten, der nach gewonnener Wahl den neoliberalen Sparkurs seines Vorgängers fortsetzt hatte - und dennoch den Staatsbankrott erklären musste. "Hoffentlich wird Lula den Wagemut aufbringen, der nötig ist, um umzusteuern."