Säkularisten kontra Islamisten, autoritäre Ideologen gegen demokratische Reformer oder doch ein Klassenkampf zwischen der alten kemalistischen Elite und der aufstrebenden Mittelschicht mit ihren islamischen Wurzeln? Die Deutungen, wo in der Türkei die Spannungslinien verlaufen, sind zahlreich.
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Für die Kemalisten - die sich als Hüter der von Mustafa Kemal Atatürk gegründeten Republik mit ihrer laizistischen Grundlage sehen - ist die Angelegenheit klar. Die religiös orientierte Regierungspartei AKP unterwandere den Säkularismus. Als Beispiel diene die angestrebte, wenn auch nicht durchgesetzte, Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten. Etwas anderes wird dabei aber außer Acht gelassen.
Es waren nicht die Kemalisten - wie die mittlerweile oppositionelle CHP - die das von Atatürk ausgerufene Ziel der Verwestlichung des Landes konsequent weiterverfolgt haben. Es war gerade die islamisch geprägte AKP, die mehr als jede Partei zuvor unternommen hat, um die Türkei auf einen europäischen Kurs zu bringen. Der Reformprozess, auf Druck der EU gestartet, hat dem Land einen enormen Schub gebracht.
Deswegen haben bei der Parlamentswahl im Vorjahr nicht nur tief religiöse Muslime, nicht nur arme Bauern aus dem vernachlässigten Osten für die AKP gestimmt. Für diese waren auch Unternehmer aus Mittelanatolien, Angehörige einer erstarkenden Mittelschicht, die ein Diktat Ankaras nicht mehr akzeptieren will und politische Mitbestimmung fordert. Und wegen der begonnenen Reformen erhielt die konservative Partei Unterstützung auch aus liberalen Kreisen. So gewann die AKP fast die Hälfte der Wählerstimmen.
Doch die breite Koalition scheint nun zerbrochen. Denn seit ihrer Wiederwahl hat die AKP wenig Eifer bei der Durchsetzung von EU-Standards gezeigt. Der Reformprozess ist erlahmt. Eines der zentralen Wahlversprechen, eine Verfassungsreform zur weiteren Demokratisierung des Landes, ist in den Hintergrund gerückt. Dass just in dem Moment wieder die Rede davon ist, in dem gegen die Partei ein Verbotsverfahren vor dem Verfassungsgericht läuft, wirft auch kein gutes Licht auf die Fraktion von Premier Recep Tayyip Erdogan. Die Regierung handle nur in ihrem eigenen Interesse, lautet der Vorwurf.
Doch nicht das scheint die Kemalisten in erster Linie zu interessieren. Ebensowenig befürchten sie in Wahrheit die Einführung der Scharia in der Türkei. Vielmehr geht es bei dem Tauziehen um einen erbitterten Kampf um die Macht im Land. Die AKP hat sich viel davon genommen, die kemalistischen Eliten wollen aber nichts davon abgeben. Und etliche Menschen haben schlicht Angst vor mehr religiösem Druck in ihrem Alltag.
Dennoch wünschen sich auch viele AKP-Kritiker nicht, dass die Partei verboten wird. Denn was wäre danach? Chaos, vorgezogene Neuwahlen, ein Staatsstreich? Für die von der EU geforderte Umsetzung von Reformen würde jedenfalls kaum mehr Zeit bleiben.
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