Der Ökonom Andrew Watt plädiert für Lockerung der Sparauflagen, damit Europa aus der Stagnation kommt.
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Wien. Europa wurde zuletzt eine Rezession im vierten Quartal dieses Jahres und im ersten Quartal 2015 prognostiziert. Die Europäische Zentralbank hält ihren Leitzins auf dem Minimum von 0,05 Prozent. Trotzdem wollen die Investitionen nicht anspringen. Da kommt es wenig überraschend, dass sich die Stimmung der Verbraucher in der Eurozone im November stärker eingetrübt hat (das Barometer sank auf minus 11,6 Punkte von minus 11,1 Zählern). Der Ökonom Andrew Watt plädiert im Interview mit der "Wiener Zeitung" für einen Stopp der strengen Haushaltspolitik in Europa sowie für eine neue Art von europäischen Anleihen, die den Ländern billige Investitionsmöglichkeiten geben sollen. Watt war zu Gast bei einer Veranstaltung der Arbeiterkammer Wien und der "Wiener Zeitung" zum Thema: "Ist Europa noch zu retten? Neue Strategien für Wachstum und Beschäftigung."
"Wiener Zeitung":Ihr Vortrag zu dem Thema "Ist Europa noch zu retten?" war wenig optimistisch. Steuert Europa Ihrer Meinung nach gegen den sprichwörtlichen Eisberg zu?Andrew Watt: Ich würde sagen, Europa schrammt am Eisberg entlang. Ich glaube nicht, dass es einen Riesenknall geben wird, obwohl das natürlich auch möglich ist. Die Gefahr ist eher, dass man entlangschrammt und Löcher auf der Seite des Schiffes entstehen. Die kann man zwar stopfen, aber noch während des Stopfens werden neue Löcher aufgerissen. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass das Schiff nicht untergeht, sondern Europa eine ganz lange Periode der Stagnation erlebt. Daneben gibt es natürlich die Gefahr, dass es politisch richtig knallt. Wir haben bereits das Problem der EU-feindlichen und populistischen Parteien: Die Ukip in Großbritannien, den Front National in Frankreich, wir haben die noch relativ kleine aber sehr lautstarke AfD in Deutschland, in Skandinavien hat man die antieuropäischen Parteien, in Südeuropa gibt es eher linke, aber auch autoritäre Parteien.
Ich denke, den Leuten, gerade in den Peripherie-Ländern, ist viel zugemutet worden. Es wird auch besser dort. Es wird von einem sehr niedrigen Niveau aus besser, wenn man sich die Prognosen ansieht, in Spanien, in Irland sowieso, da hat die Kommission in einem beschränkten Maße recht, besonders die Richtung stimmt.
Jetzt sind die größeren Länder, die in den Fokus geraten.
Ja. Meine Sorge ist, dass man jetzt Frankreich und Italien die Daumenschrauben anlegt, und das wird nicht lustig, weil das große Länder sind, wo jede Rücknahme der wirtschaftlichen Dynamik auf die anderen Länder ausstrahlt, auch auf Deutschland, das Autos nach Frankreich und Italien exportiert. Das heißt, wir werden dann alle in den Strudel hineingezogen, und das ist zu vermeiden. Eigentlich wüssten wir, was wir zu tun hätten, aber wir können es nicht machen.
Was hätten wir zu tun?
Wir können zum Beispiel sagen, die fiskalpolitischen Regeln suspendieren wir für fünf Jahre. Wir erlauben den Ländern jetzt zu expandieren, zu investieren, wir schauen jetzt erst mal fünf Jahre lang gar nicht darauf. Das könnte man machen.
Eine fünf Jahre lange Rumspring-Phase sozusagen?
Ja genau. Dann würde man sozusagen klassisch keynesianisch wie in den USA und in Großbritannien die Wirtschaft aus dem Tief holen. Das kennen wir aus der Geschichte, das ist möglich, wenn man an den richtigen Hebeln ansetzt. Diese Kombination (wie sie in der EU praktiziert wird, Anm.) von expansiver Geldpolitik, aber gleichzeitigem Sparzwang ist zu wenig.
Außerhalb Europas wurde bei der Krisenbewältigung weniger gespart?
Zuerst hat sich das US-Defizit ausgeweitet, und dann haben es die Amerikaner ein bisschen zurückgedrängt, aber nicht so stark wie wir in Europa. Die USA hatten das ganz massive Quantitative Easing, bei dem die Fed jeden Monat 80 Milliarden Dollar an Staatsanleihen aufgekauft hat. Das sind ganz enorme Beträge. Ähnliches gilt für Großbritannien. Dort wurde das Budget relativ stark beschränkt, das stimmt, aber letztendlich war ein wenig Schall und Rauch dabei, weil in Großbritannien wurde eine ganz harte Austeritäts-Rhetorik an den Tag gelegt. Aber dann hat die Regierung selbst gemerkt, dass das mit den Sparvorgaben nicht funktioniert, dass sie so den Karren gegen die Wand fahren und dann haben sie auch das die Beschränkungen zurückgenommen und verbunden mit den umfangreichen Ankäufen der Bank of England, das hat das auch umgedreht.
In der Eurozone ist die EZB viel zu verhalten - weil Deutschland alle zum Sparen zwingt.
Genau, man hat diese Mischung aus Quantitative Easing das rein von der Quantität bei weitem nicht so bedeutend war wie in den USA. Und dann ist hier noch unter dem Stichwort Bankenrettung viel Geld in die Banken gepumpt worden, wo es aber sehr zweifelhaft ist, ob das viel gebracht hat. Obwohl die Banken jetzt angefangen haben, das Geld wieder zurückzuzahlen, weshalb die Bilanz der EZB auch im vergangenen Jahr geschrumpft ist, was EZB-Chef Mario Draghi durch den Kauf von Pfandbriefen wieder rückgängig machen will.
Bei all meiner Kritik an der EZB sehe ich auch, dass die EZB in einem komplizierterem Umfeld ist, als die Fed oder die Bank of England. Wenn die EZB anfängt, Staatsanleihen aufzukaufen, dann ist die erste Frage: wessen Staatsanleihen? Das ist nicht so einfach. Und deswegen versucht die EZB alles, bevor sie das macht.
Mein Vorschlag ist, dass man eine Art künstliche Europäische Anleihe - man darf sie aber nicht Eurobonds nennen, weil dieser Name ist schon zu belastet - erschafft. Diese könnte dann die EIB, die Europäischen Investitionsbank, kaufen. Die EIB finanziert ja schon kleinere Projekte mit 50 Prozent. Die Länder müssen sich zwar da auch selbst verschulden, aber die profitieren davon, dass sich die EIB bei Kreditaufnahme billiger Geld verschaffen kann als die meisten EU-Staaten, und das macht es interessant.
Wenn die billige Kreditaufnahme nicht durch die EIB geschieht, dann kann man auch eine neue Agentur schaffen. Das Problem, das es zu lösen gilt, bleibt das gleiche: Wie gebe ich den Regierungen Zentralbankgeld, damit sie Investitionen sinnvoll anschieben? Das ist die Frage. Ich werde die EIB beim nächsten Treffen in Brüssel vorschlagen. Aber ich bin der Erste, der sagt: Wenn jemand eine andere, bessere Idee hat, dann machen wir das eben in der anderen Art. Mir ist die EIB nicht wichtig in dem Zusammenhang, nur die gibt es eben schon. Und es würde einige Probleme lösen, zum Beispiel jenes der Zentralbank: Die Zentralbank will die Zinsen erhöhen, sie will ja die Inflationsrate erhöhen. Die Bundesbank hat sogar an die deutsche Lohnpolitik appelliert, und gesagt, man könnte über stärkeres Lohnwachstum das Preisniveau nach oben treiben. Das zeigt einem schon, wie weit wir von einem normalen Szenario entfernt sind. Normalerweise wollen wir die Inflation niedrig halten und an die Gewerkschaften appellieren, es nicht all zu sehr zu übertreiben mit den Lohnforderungen. Wir brauchen unbedingt ein höheres Lohnwachstum in Deutschland damit die Binnennachfrage stärker wird, um auch den anderen Ländern ein bisschen Luft zum Atmen zu geben.
Zur Person
Andrew Watt ist seit 2012 Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Davor war er zehn Jahre lang beim Europäischen Gewerkschaftsinstitut (EGI) in Brüssel. Er ist unter anderem Berater der Europäischen Kommission und Mitglied des Wirtschaftspolitischen Rates der SPD.