Hätte alles so geklappt wie die Parteitagsregie vom vergangenen Wochenende, stünde die SPD heute besser da: Sämtliche Wahlvorschläge und der von der Parteispitze vorgelegte Leitantrag gingen reibungslos durch, es gab keine tiefen Risse mehr zwischen linkem und rechtem Flügel und auch die von manchen befürchtete Abrechnung mit den Altvorderen, auf die man die Schuld des Wahldebakels hätte abwälzen können, blieb aus.
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Der seit zwölf Jahren als "Nachwuchshoffnung" gehandelte und inzwischen zum runden Fünfziger gereifte Sigmar Gabriel aus dem niedersächsischen Städtchen Goslar hat es endlich bis ganz an die Spitze der traditionsreichen deutschen Sozialdemokratie geschafft; laut seinem Vorgänger Franz Müntefering "das schönste Amt neben dem Papst". Das Votum für Gabriel in Dresden war mit fast 95 Prozent ebenso fulminant wie seine Rede, der wichtigsten in seinem bisherigen politischen Leben.
Seine rhetorische und psychologische Leistung in dieser fast zweistündigen Bewerbungsrede bestand darin, der tief deprimierten Parteibasis wieder Selbstvertrauen und Kampfeslust zu zeigen. Bescheiden, unverkrampft, humorvoll bis manchmal etwas kokett, von leger plaudernd bis eindringlich appellierend, Zuversicht ausstrahlend und Mut machend verstand er es, die rund 500 Delegierten zu minutenlangen standing ovations hinzureißen.
Er nahm damit auch jenen den Wind aus den Segeln, die wutschäumend gegen die Schrödersche Agenda 2010, gegen Hartz IV, gegen die Rente mit 67 anschnauben wollten, indem er den Stolz auf das in elf Jahren Regierungsarbeit geleistete mit selbstkritischen Tönen verband. Auf diese Weise gelang ihm der Spagat zwischen den Flügeln, aber auch zwischen Gestern und Heute. Eine radikale Abkehr von der bisherigen Linie hätte sonst der SPD nur weitere Glaubwürdigkeitspunkte geraubt.
Gabriel, der ursprünglich dem marxistischen Lager der SPD zugerechnet wurde, später jedoch sehr pragmatische Züge annahm, befasste sich im Grundsatzteil seiner Rede mit der strategischen Neuausrichtung der Sozialdemokratie. Wer hier genau zuhörte, bemerkte eine deutliche Distanzierung von seinem politischen Ziehvater, Gerhard Schröder, der Ende der Achtziger-Jahre gemeinsam mit Tony Blair den Begriff der "Neuen Mitte" für die Sozialdemokratie reklamiert hatte.
Er weigere sich, die Mitte als einen festen Ort zu begreifen, sagte Gabriel. Es komme vielmehr auf die "Deutungshoheit" an, was unter der Mitte jeweils zu verstehen sei. Damit lehnt er offenbar das Konzept der sozialstrukturellen und -psychologischen Lebensstile ab, die durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht oder Soziallage geprägt werden.
Den Begriff der "Deutungshoheit" führt Gabriel zwar nicht näher aus. Man kann aber aus folgender Passage Rückschlüsse ziehen: "Die politische Mitte in einem Land hat der gewonnen, der in den Augen der Mehrheit der Menschen die richtigen Fragen und die richtigen Antworten bereithält."
Sigmar Gabriel interpretiert den Begriff der politischen Mitte so um, dass daraus ein kommunikatives, ja propagandistisches Problem wird: Wer die Mehrheit davon überzeugen kann, dass seine politischen Angebote die richtigen sind, habe die Mitte auch dann gewonnen, wenn diese "links" sei. Es geht also künftig nicht mehr um einen Kampf der Klassen oder Ideologien, sondern der "Deutungen". Dies ist je nach Sichtweise entweder trivial oder revolutionär, entweder populistisch oder zukunftsweisend.
Der Start ist gelungen: Aufbruchstimmung statt Nabelschau. Wie das Duo Gabriel-Nahles die Mühen der Ebene bewältigen wird, dafür hat sich der neue SPD-Vorsitzende, der siebente in den letzten zehn Jahren, selbst ein Jahr Zeit gesetzt. Nicht viel, um die jahrzehntelang praktizierten Flügelkämpfe zu bezwingen. Vielleicht hat die SPD ja dann ihren Erzengel Gabriel - mit beiden Flügeln.