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Spiel auf Zeit um den Sitz des toten Richters

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Nach dem Tod des streng konservativen Höchstrichters Antonin Scalia droht in den USA im Wahljahr auf dieser Front ein politisches Chaos.


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Washington. Unersetzlich ist bekanntlich keiner, mittel- und langfristig. Aber kurzfristig, das ist oft eine andere Geschichte. Die das gesellschaftliche Zusammenleben in den USA betreffenden Entscheidungen, die seit Samstagmittag plötzlich und unvermittelt in der Luft hängen, haben es durchwegs in sich. Unter anderem schreibt der Kalender dem Supreme Court, dem höchsten Gericht im Lande, in den kommenden Wochen und Monaten die Klärung folgender Fragen vor: Wie weit darf ein Bundesstaat gehen, wenn er Abtreibung einschränken will? Wie lauten die Kriterien, nach denen künftig Wahlsprengel festgelegt werden dürfen? Erstreckt sich die Macht einer Gewerkschaft auch auf Nicht-Mitglieder, deren Interessen sie vertritt? Hat Barack Obama seine Kompetenzen überschritten, als er im Alleingang die Deportation von vier Millionen sich illegal im Land befindlichen Menschen ausschloss? All diese drängenden Fragen und noch mehr müssen, so viel lässt sich schon jetzt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, vorläufig einer definitiven, rechtsverbindlichen Antwort harren -im schlimmsten Fall sogar über ein Jahr lang. Der Grund dafür liegt im Tod von Antonin Scalia, der im Alter von 80 Jahren auf einem Jagdausflug in Texas einem Herzinfarkt erlag. Um zu verstehen, warum der Tod Scalias das politische Amerika übers Wochenende derart erschüttert hat, muss man die Zusammensetzung und die Rolle des Supreme Court verstehen, dessen Mitglied er seit 1986 war. Die obersten Richter üben ihren Job - wie der Papst - bis zum Ende ihres Lebens aus, respektive solange es ihre geistigen Kräfte zulassen.

Von den neun Mitgliedern stellte bisher fünf der moderat bis extrem konservative Flügel, den Gesinnungen entsprechend jeweils von republikanischen Präsidenten nominiert: John Roberts (61, Chief Justice) und Samuel Alito Jr. (65), beide nominiert von George W. Bush. Clarence Thomas (67), nominiert von George H. Bush. Anthony Kennedy (79), nominiert von Ronald Reagan. Und Scalia, ebenfalls einst von Reagan nominiert. Mit seinem Tod teilen sich die Verbliebenen nunmehr mit vier von den Demokraten nominierten Richtern die Bank: Ruth Bader Ginsburg (82) und Stephen Breyer (77), beide nominiert von Bill Clinton. Elena Kagan (55) und Sonia Sotomayor (61), beide nominiert von Barack Obama. Weil nur Mehrheitsentscheidungen verbindlich sind und die Richter mit ganz wenigen Ausnahmen - die namhaftesten davon die, deren Ergebnis de jure der Absegnung der gesetzlichen Krankenversicherung aka Obamacare sowie der der Homo-Ehe gleichkamen -, entlang dieser politischen Trennlinien abstimmten, ergab sich fast immer ein 5:4. Ohne Scalia steht es jetzt 4:4 - und damit unentschieden. Entsprechend hatte die Nachricht seines Ablebens in der Hauptstadt wie eine Bombe eingeschlagen - und läuft angesichts der Präsidentenwahl im November auf ein Spiel auf Zeit hinaus.

Obama will sofort nominieren, Republikaner stemmen dagegen

Mitch McConnell, Sprecher des von den Republikanern dominierten Senats, verkündete, dass er es "unpassend" fände, sofort einen Nachfolger zu nominieren. Man solle sich gedulden, bis ein neuer Präsident im Amt sei. Sonst wollen er und seine republikanischen Kollegen alles dafür tun, jegliche Kandidaten für den Job zu blockieren, die der Präsident nominieren will. Letzterer hat laut Verfassung das Vorschlagsrecht, aber ohne die Zustimmung des Senats bleibt Scalias Sitz leer. Präsident Obama machte indes klar, dass er seinen konstitutionellen Pflichten sehr wohl nachzukommen gedenkt und sich sofort auf die Suche nach Kandidaten machen wird. Garantiert scheint angesichts des aktuellen Stands der Dinge lediglich eins: dass Obama keinen neuen Scalia nominieren wird. Die Art, wie der das Recht auslegte, wird in Fachkreisen unter dem Begriff "Originalismus" subsummiert. Gemeint ist damit, dass der Richter, wie aus den schriftlichen Begründungen für seine Entscheidungen stets verlässlich hervorging, die Zeilen der Original-Verfassung von 1789 rein buchstäblich zu interpretieren pflegte; sprich gänzlich ungeachtet dessen, dass seitdem ziemlich viel Wasser den Mississippi hinuntergeflossen ist. ("Original" deshalb, weil die US-Verfassung seitdem zahlreiche Ergänzungen erfuhr, insgesamt 27.)

Während die Patt-Situation anhält und sich keine Mehrheiten auf der Richterbank ergeben, gelten einfach die Entscheidungen des jeweils untergeordneten Gerichts als bindend.