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Die Zeit unmittelbar nach der politischen Wende 1989 hätte die deutsch-tschechischen Beziehungen nachhaltig entspannen sollen. Größter Hoffnungsträger war damals Vaclav Havel, der am 23. Dezember 1989 im Tschechoslowakischen Fernsehen folgende Erklärung abgab: "Ich glaube, dass es unsere Pflicht ist, sich bei den Deutschen zu entschuldigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschoben wurden, denn es war ein Akt, bei dem einige Millionen Menschen auf sehr harte Weise ihrer Heimat beraubt wurden, eigentlich war es Böses, durch das Vergeltung für vorangegangenes Böses geübt wurde".
Heute, elf Jahre später, wäre nach den Worten des deutschen Historikers Rudolf Viehaus eine solche entschuldigende Erklärung nicht mehr möglich. Auf höchster politischer Ebene würde man die leidige Frage am liebsten als erledigt betrachten. Nicht anders ist die Beteuerung Milos Zemanns bei Bundeskanzler Schröder am 8. März 1999 zu interpretieren, wo er die "Benes-Dekrete" über Vertreibung und Enteignung von über zwei Millionen Sudetendeutschen in den Jahren 1945 bis 1948 als "rechtlich erloschen" und damit die ganze Frage als irrelevant abtat. So eindeutig liegt die Sache allerdings doch nicht. Kurz darauf meldete sich nämlich der tschechische Verfassungsrichter Antonin Prochazka zu Wort, der die Aussage Zemanns als "zumindest ungenau" bezeichnete. Denn er, Prochazka, urteile in Restitutionsangelegenheiten immer noch nach den Buchstaben der von Benes erlassenen Verfügungen.
Unter vielen tschechischen Juristen und Historikern werden die Benes-Dekrete, 143 an der Zahl, von denen jedoch nur zwölf die Sudetendeutschen betrafen, als integraler Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung, als Grundstein der Nachkriegsordnung betrachtet, auf die man etwas hält und daher nicht gewillt ist, sie so mir nichts dir nichts abzuschaffen. Erst jüngst hat eine hochkarätig besetzte Historikerkommission eine Abschaffung als "unsinnig und völlig überflüssig" bezeichnet, im Rahmen dieser Veranstaltung wurde sogar bestritten, dass den Vertreibungen das völkerrechtswidrige Prinzip der Kollektivschuld zugrundelag.
Wie kann diese, seit fünfzig Jahren beinahe unveränderte Geschichtsauffassung erklärt werden? Ein wesentlicher Grund liegt sicher in der jahrzehntelang von den kommunistischen Machthabern verbreiteten Legende vom "Bedrohungsbild des deutschen Revanchismus". Die sonst so verhassten Sowjets verstanden es im Zuge dieser Kampagne, sich selbst als einzigen Garant vor der drohenden Gefahr eines deutschen Vergeltungsaktes zu verkaufen und einen antideutsch gefärbten tschechischen Patriotismus am Glosen zu halten.
Ein weiterer triftiger Grund für das verzerrte Geschichtsbewusstsein in der Sudetenfrage dürfte in der Einschätzung einerseits der Bedeutung nationaler Anstrengungen im Zuge der eigenen Nationwerdung 1918 und andererseits der Rolle der Sudetendeutschen bei der Zerschlagung des Vaterlandes durch Hitler liegen. Denn es waren nicht in ausschließlich Tomas Garrigue Masaryk und seine Exilregierung, die die Selbstständigkeit des habsburgischen Kronlandes erfochten, sondern eher französische strategische Überlegungen, denen eine selbstständige Tschechoslowakei als militärischer, politischer und wirtschaftlicher Zangenkopf gegen Deutschland ins Konzept passte.
1938 - und hier kommen die Sudetendeutschen ins Spiel - hatte sich die geostrategische Landkarte weitgehend geändert. Angesagt war "Appeasement", also die Beschwichtigung Hitlers und Verhinderung eines Krieges. Unter diesen Vorzeichen war man bereit, die Tschechoslowakei zu opfern und einer Annexion zuerst der sudetendeutschen Gebiete, dann der Resttschechei durch die Wehrmacht zuzulassen.
Hitler wiederum begründete seine Aggressionspolitik mit der "Wahrung deutscher Interessen" und der Heimholung der Sudetendeutschen "ins Reich": Ein propagandistischer Trick, denn ebensowenig, wie es den Alliierten 1918 um die Freiheit der Tschechen und Slowaken ging, war Hitler an den Sudetendeutschen selbst interessiert. Auch hier ging es mehr um strategische Überlegungen: Er benutzte die deutsche Minderheit in Tschechien, vor allem die nationalsozialistische "Sudetendeutsche Partei" Konrad Henleins, um seine hegemonistischen Interessen durchsetzen zu können, eine "Flankenbedrohung" auszuschließen, wie es in jüngst aufgetauchten Akten der Wehrmacht heißt. Die Sudetendeutschen waren für ihn ein Mittel zum Zweck. "Völkische Überlegungen" waren dabei zumindest zweitrangig.