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Spieler ohne Brexit-Ass

Von Michael Schmölzer

Politik

Der neue britische Premier liebt das Risiko und heißt Boris Johnson. Demnächst wird er in Brüssel auftauchen.


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London/Wien. Er war haushoher Favorit und hat schließlich klar gewonnen: Der umstrittene Tory-Politiker Boris Johnson wird neuer Parteichef und damit automatisch neuer britischer Premier. Am Mittwoch erfolgt die Amtsübergabe, dann wird die Queen Johnson mit der Bildung einer Regierung beauftragen.

Der 55-Jährige beerbt seine glücklose Vorgängerin Theresa May und wird das leidige Thema Brexit auf die eine oder andere Weise zu lösen haben. Ob mit oder ohne Austrittsvertrag, das ist die Frage. Auf alle Fälle soll die Angelegenheit bis zum 31. Oktober bereinigt sein, keinen Tag später, wie Johnson knapp nach seiner Kür bestätigt.

Johnson musste ein kompliziertes innerparteiliches Auswahlverfahren durchlaufen, bis er schließlich an die Parteispitze kam. Das Finale wurde zwischen ihm und Außenminister Jeremy Hunt ausgetragen, 160.000 Parteimitglieder hatten das letzte Wort.

Der große Einiger?

Dienstag Mittag dann die Entscheidung: Alles, was bei den britischen Konservativen Rang und Namen hatte, versammelte sich in London, um dem "Leadership Announcment 2019" beizuwohnen. Auch vor dem britischen Parlament versammelten sich Brexit-Gegner und Befürworter eines Austritts, um Stimmung zu machen. Um 11.40 Ortszeit sollte das Ergebnis bekannt gegeben werden, die Geduld der Parteigranden wurde strapaziert, geraume Zeit mussten sie auf ein leeres Rednerpult oder auf ihr Smartphone starren.

Um 12.00 war es soweit. Brandon Lewis, Parteivorsitzender der Tories, betrat die Bühne. Er beschwor die Einheit der Partei "zum Wohle des Landes" und bat die versammelten Konservativen, zum nächsten Premier netter zu sein als zu Theresa May. Dann betraten die Kontrahenten, Jeremy Hunt und Boris Johnson, den Saal. Schließlich wurde verkündet, womit alle gerechnet hatten. Johnson erhielt 45.000 Stimmen mehr als Hunt. Er ist er neue Parteichef und damit neuer Premier.

Er sei es, der Partei und Land einen könne, meinte Johnson in seiner ersten Ansprache als Parteichef. Er sei es, der die, die weiterhin ein gutes Verhältnis zur EU haben wollten, mit denen versöhnen könne, die möglichst rasch und schmerzlos austreten wollten. Johnson betonte einmal mehr, dass er den Brexit bis zum 31. Oktober über die Bühne bringen wolle. Und: "Wir werden das ganze Land mit neuer Energie erfüllen.

Beobachter kritisierten, dass Johnson bis dato keine neuen Ideen präsentiert habe, wie denn die chronische Pattsituation um den Brexit aufgelöst werden könnte. Zudem sei es der 55-Jährige selbst gewesen, der maßgeblich geholfen habe, Großbritannien die verfahrene Lage hineinzumanövrieren. Der so exzentrische wie ehrgeizige Politiker hat sich in der Tat erst einige Monate vor der Brexit-Abstimmung 2016 für das "Leave"-Lager entschieden und mit der Verbreitung von Unwahrheiten Stimmung gemacht.

Briten gespalten

Tatsache ist, dass das Land gespaltener denn je ist und die Tories in einer beispiellosen Krise feststecken. Und auch wenn Johnson ob seiner klamaukhaften Art die Lacher stets auf seiner Seite hat: Dass er es ist, der Land und Partei eint, wird überall bezweifelt. Eine Reihe an Tory-Ministern ist bereits zurückgetreten oder wird zurücktreten. So etwa Schatzkanzler Philip Hammond, die Nummer eins in der Ministerriege, der am heutigen Mittwoch gehen will. Er werde lieber von sich aus zurücktreten, als rausgeschmissen zu werden. Und er stimme beim Brexit nicht mit Johnson überein, so Hammond. Auch Justizminister David Gauke und Entwicklungshilfeminister Rory Stewart werden gehen.

Sargnagel Westminster

Tory-Abgeordnete haben bereits angekündigt, Johnsons Vision vom No-Deal-Brexit nicht akzeptieren zu wollen und in diesem Fall seiner Regierung das Misstrauen aussprechen zu wollen. Die unbotmäßigen Mandatare von Westminster waren der Sargnagel für Johnsons Vorgängerin Theresa May. Das britische Unterhaus könnte auch Johnson zu Verhängnis werden. Er muss die Abgeordneten hinter seiner Linie vereinen und etwa auch die Gunst der nordirischen DUP zurückgewinnen, auf deren Unterstützung er angewiesen ist und die May zuletzt die Gefolgschaft verweigert hatte. Auch der beliebte Londoner Bürgermeister Sadiq Khan steht Gewehr bei Fuß, wenn es gegen Johnson geht. Er werde "nie damit aufhören", seine Meinung "gegen die katastrophale Bedrohung des Brexits zu sagen", so der Labour-Mann.

Optimisten innerhalb der britischen Konservativen hoffen, dass sich mit Johnson eine neue Dynamik breitmachen wird; dass er tatsächlich für neuen Schwung sorgt und damit das Brexit-Drama irgendwie zu einem glimpflichen Ende bringt.

Johnson hält am Mittwoch seine erste Rede als Regierungschef, schon am Donnerstag könnte das britische Parlament ein Misstrauenvotum gegen ihn starten und die Ambitionen des Tory-Politikers im Ansatz ersticken. Allerdings verabschieden sich die Abgeordneten dann in die Sommerpause, das Zeitfenster ist also sehr klein.

Corbyn will Neuwahlen

Oppositionschef Jeremy Corbyn hat Johnson jedenfalls bereits mit Neuwahlen gedroht, der neue Premier sei von weniger als 100.000 Tories gewählt worden und habe das Land nicht hinter sich. Ein EU-Austritt ohne Abkommen, der von Johnson nicht ausgeschlossen wird, bringe Jobverluste und steigende Preise.

Klar ist, dass die Spielernatur Johnson - Kritiker werfen ihm beispiellose Rückgratlosigkeit vor - als Premier Farbe bekennen muss. Bei Johnson scheint alles möglich - ein Austritt aus der Europäischen Union ohne Deal oder ein solides Abkommen. Die erste Version ist schwer umsetzbar, weil sich Westminster querlegen wird. Ein "No Deal" hätte vor allem für Großbritannien katastrophale ökonomische Auswirkungen. Johnson weiß das. Doch er ist ein Gambler und wird bald mit einem Satz Pokerkarten in Brüssel auftauchen.

Dort kennt man den ehemaligen Außenminister und gibt sich bedeckt. In die eigenen Karten will man sich jedenfalls nicht schauen lassen. Der Brexit-Chefverhandler der EU, Michel Barnier, twitterte, dass er sich auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit Johnson freue mit dem Ziel, einen geregelten Austritt Großbritanniens aus der EU zu erreichen.

Man gibt sich in Brüssel abwartend und skeptisch, man lässt den neuen Premier kommen und will dann sehen, was der zu sagen hat. In Brüssel ist man sich nicht sicher, ob Johnson an konstruktiven Gesprächen interessiert ist oder einfach nur mit einem lauten Knall aus der Europäischen Union austreten will.

Österreichs EU-Abgeordnete teilen diese Skepsis: Auf den ÖVP-Mandatar und Vizepräsident im EU-Parlament, Othmar Karas, hat Johnson "als Politiker bisher nicht immer den besten Eindruck" gemacht. "Wenn Boris Johnson weiterhin seine Clown-Show abzieht, wird er damit in Brüssel auf taube Ohren stoßen", ist auch SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder wenig begeistert. "Boris Johnson ist kein integerer, umsichtiger Politiker, er verbreitet Lügen und steuert das Land in die Katastrophe", so die Grüne EU-Delegationsleiterin Monika Vana.

Trump-Lob für Johnson

Einer ist von Boris Johnson sehr angetan: US-Präsident Donald Trump, mit dem der Brite immer wieder verglichen wird. Trump kann der Kritik an Johnson nicht beipflichten, er gratulierte dem künftigen britischen Premier am Dienstag als einer der ersten. Der Konservative werde ein "großartiger" Regierungschef sein, zeigte sich Trump erfreut.

Und genau dieses Lob aus Washington ist es, das viele in Großbritannien und Europa zusätzlich mit Besorgnis erfüllt.