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"Wachstum!" lautet der stete Ruf einer wachsenden Bevölkerung auf dieser Erde. Welche Art von Wachstum verträgt unsere Erde noch - unsere Erde mit begrenzter Oberfläche? Wir gebärden uns so, als lebten wir in einer Welt mit unendlichen Ausmaßen. Entweder sind wir ein Versuch der Natur, eine Rasse, die mit den Gegebenheiten des begrenzten Raumes in Einklang kommen soll, oder wir sind (waren) eine Möglichkeit, die diese Einklangsfindung nicht finden konnte und wieder von der Bildfläche verschwinden wird.<p>Wenn meine Wohnung voll geräumt ist, ich mich von allen überflüssigen Dingen befreit habe, nur für mich Wertvolles übrig bleibt, ich jedoch weiterhin mir wichtig erscheinende Dinge sammle, werde ich mir eine größere Wohnung suchen müssen, um meine Sachen unterzubringen - solange ich das kann, solange ich also immer größeren Raum vorfinde, sind meiner Sammelleidenschaft keine Grenzen gesetzt.<p>Was aber mache ich, wenn ich keinen passenden Raum mehr finde? Ich werde auf offenes Land ausweichen, um Raum zu finden. Was aber, wenn ich nicht der Einzige bin, der Raum sucht, sondern viele andere auch? Dann werde ich Land umwidmen lassen, werde Wälder abholzen, die Wüste besiedeln, mich auf riesigen Schiffen niederlassen, zusammen mit anderen Platzsuchenden. Trinkwasser werde ich durch Meerwasserentsalzungsanlagen gewinnen, Nahrung in vielstöckigen Nahrungsbeschaffungstürmen heranziehen. Die Sonnenenergie wird all das bewerkstelligen. Also unbegrenztes Wachstum? Wenn all das auf klügste Weise ausgenützt, gibt es da überhaupt Wachstumsgrenzen?<p>
Eine Utopie mit viel Zeit, die übrig bleibt
<p>Die Reichen und die Armen - diesen Unterschied wird es nicht mehr geben, denn die Reichen, trotz einstiger Privatarmeen, werden (wurden) schließlich überwunden und angeglichen. Riesige ameisenartige Völkerschaften werden alle Hindernisse überwinden und zu einer Art Nützlichkeitsgleichberechtigung finden. Ehe dieser Zustand erreicht ist, werden alle erdenklichen Rohstoffe der Erde entzogen sein.<p>Von diesem Zeitpunkt an wird es keinen Müll mehr geben, die Atmosphäre wird unbelastet sein, die organische Masse (Mensch, Tier, Pflanze) zu Nahrungsmitteln, zu Gebrauchsgegenständen umgewandelt, Roboter werden die notwendigen Arbeiten erledigen. Ehemalige Fortpflanzungsmethoden durch eine ausgeklügelte Eprouvettenautomatik ersetzt; die Körper der Menschen den Erfordernissen der Zeit angepasst - Arbeit ein Ding der Vergangenheit; Sexualität - ihrer Nützlichkeit beraubt und nach einer Weile der grotesken Ausschweifung - ein Ding der Vergangenheit.<p>Was bleibt, ist Zeit. Womit wird die Zeit des kreativen Wesens Mensch ausgefüllt, wenn jedwede Schaffung neuer Produkte den erreichten Ist-Zustand des begrenzten Lebensraumes aus dem Gleichgewicht bringen würde? Es bleibt das Spielen.<p>Was unterscheidet den spielenden vom arbeitenden Menschen? Der arbeitende Mensch - vom Überlebenszwang getrieben - ist zielorientiert, erfolgsorientiert, produktorientiert, zeitgebunden. Der spielende Mensch hingegen ist frei von allen Bindungen. In diesem "Shangrila", in dem die Arbeitskraft, die Arbeitsfähigkeit des Homo sapiens nicht mehr gefragt ist - ja, als Hindernis gilt -, wird sich die Kreativität mit Abläufen befassen, an deren Ende kein Produkt mehr steht, oder wenn, dann eines, in dem die Löschung mit einbezogen ist.<p>Ein Beispiel: Wenn Menschen am Strand spielen und eine Sandburg bauen, mit all den kreativen Möglichkeiten, die Sand zulässt, und eine Woge darüberrollt, dann wird die Heiterkeit einen neuen Impuls durch die Auflösung des Gebildes erfahren. Die Zeit der gemeinsamen Aktivität hat die Menschen mit Freude erfüllt, wohingegen die Auflösung des Sandschlosses keinen Streit - durch mögliche individuelle Besitzergreifung ausgelöst - mehr kennt.
Harald Schebach wurde 1938 geboren. Er studierte Architektur, Geschichte, Archäologie und Sport, ehe er 1964 nach Kanada auswanderte. Nach Aufenthalten in der Karibik, in Kalifornien, Indien und Griechenland schrieb er mehrere Bücher, darunter "Jamaika" und "Deckboy" (beide im Verlag Löcker erschienen) und veröffentlichte Kurzprosa in Tinctur", "Montauk", "Global Player", "Pappelblatt" und "Wienzeile".